1874, Briefe 339–411
381. An Carl von Gersdorff in Gnadenberg
<Bergün, 26. Juli 1874>
Mein lieber Freund, herzlich habe ich mich über Deinen wohlgemuthen und vertrauensvollen Brief gefreut und kann Dir heute in einer gleichen Stimmung antworten. Voran die Mittheilung, dass ich doch noch einen Theil meiner Ferien in Bayreuth zubringen werde — nämlich von dem Tage an, wo meine Nr. 3 fertig sein wird: an ihr wird hier auf der Höhe rührig gearbeitet. In der Tiefe brachte ich nicht mehr eine Zeile fertig und hielt fast das ganze Thema für zu schwer für mich: hier oben aber ist mir Vertrauen und Kraft wieder gewachsen — obwohl mir auch jetzt noch vor einem gewissen Capitel graut. Nun gab es mancherlei Erlebnisse inzwischen: so ist leider der gute Fritzsch als Verleger für mich und Overbeck unmöglich geworden — weil er, aus zwingenden Gründen, seine Verlegerthätigkeit sistiren will. Zwar hatte er auch die Nr. 3 wieder angenommen, aber mit dem sauersten und verdriesslichsten Gesicht von der Welt: so dass ich bereits meinen Cyclus von Unzeitgemässen beschlossen und verpfuscht sah. Da passirte etwas Unerwartetes: ein Brief erschien von einem jungen Verleger und wie es scheint Verehrer, E. Schmeitzner aus Schlosschemnitz in Sachsen — und jetzt ist bereits alles in Ordnung gebracht: ich habe für alle Unzeitgemässen einen sehr bereitwilligen und voraussichtlich rührigen Verleger. So kann ich denn mein schweres Tagewerk fortsetzen — das Schicksal gab mir wahrlich ein günstiges Zeichen!
In einer Woche treffe ich mit der Marchesa Guerrieri in Stachelberg zusammen, wohin zu kommen sie mich gebeten hat. Es soll eine ausgezeichnete Frau sein, nach Frl. von Meysenbug’s Urtheil und nach ihren eignen Briefen zu schliessen.
Hier (in Bergün: vide Bädecker) bin ich mit Romundt in einer göttlichen Gegend. Wir sind die einzigen Pensionäre eines Hôtels, an dem täglich hundert Reisende vorbei passiren, auf dem Wege nach St. Moritz oder zurück. Einen See wie den Flimser haben wir freilich nicht: neulich suchten wir einen drei Stunden, auf der Höhe von 6000 Fuss, badeten und schwammen darin, aber erstarrten fast zu Eis und kamen feuerroth wieder heraus. Heute suchten wir eine Schwefelquelle auf, die noch nicht benutzt ist; auf dem Rückwege warf eine Ziege vor meinen Augen ein Zicklein, das erste lebendige Wesen, welches ich gebären sah. Das Junge war viel behender als ein kleines Kind und sah auch besser aus, die Mutter leckte es und benahm sich wie mir schien sehr vernünftig, während Romundt und ich furchtbar dumm dabei standen.
Heute Abend werden wir Risotto essen, sagt mir ebenderselbige Romundt und hat es bereits bestellt.
Als wir neulich in Chur ankamen, waren wir plötzlich inmitten der ganzen Flimser Gesellschaft, Travers, Rohrs Hindermanns; Fräulein Bertha sah wieder so vortrefflich aus, dass ich mich fast ärgerte, nach Bergün abzufahren. Nun wie wird’s im Herbste, bei der grossen Zusammenkunft der Verschworenen? Hoffentlich ist bis dahin meine Nr. 3 gedruckt und gelangt als eine Art Festgabe in Eure Hände.
Nun lebe wohl getreuester und lieber Freund und nimm meine und Romundts herzlichste Grüsse
F N.
Adresse immer nur Basel.