1874, Briefe 339–411
357. An Malwida von Meysenbug in San Remo
Basel, Sonnabend vor Ostern. <4. April>1874.
Verehrteste Freundin
Was für rührende Überraschungen haben Sie mir bereitet! Noch Niemand hat mir je Blumen geschenkt, und ich glaube jetzt zu wissen dass eine eigne Beredsamkeit in dieser stummen Farbenfülle- und Belebtheit liegt. Diese Frühlingsboten blühten in meinem Zimmer wieder auf und fast eine Woche lang konnte ich mich ihrer erfreuen. Denn so grau ist unser Leben und so schmerzhaft dazu, dass Blumen gleichsam die Ausplauderer eines Geheimnisses der Natur sind; sie verrathen dass irgendwo Leben Hoffen Licht Farbe auf dieser Welt zu finden sein muss. Wie oft verliert man allen Glauben daran! Und da ist es ein schönes Glück, wenn die Kämpfer sich gegenseitig Muth zusprechen und sich durch die Übersendung von Symbolen, seien es Blumen, seien es Bücher, an ihren gemeinsamen Glauben erinnern.
Doch da denke ich an Ihre armen Augen, und bezweifle sehr, dass Sie diese schlechte Schrift lesen können, wenn Sie sie selbst lesen dürften.
Mein Befinden, um davon ein Wort zu sagen, ist seit Neujahr, in Folge einer veränderten Lebensweise, recht gut und ohne jedes Bedenken: nur dass ich mit den Augen vorsichtig sein muss. Sie wissen aber, es giebt einen Zustand körperlichen Leidens, der einem mitunter wie eine Wohlthat erscheint; denn man vergisst darüber, was man sonst leidet, oder vielmehr: man meint, es könne einem geholfen werden, wie dem Leib geholfen werden kann. Das ist meine Philosophie der Krankheit: sie giebt Hoffnung für die Seele. Und ist es nicht ein Kunststück, noch zu hoffen?
Nun wünschen Sie mir Kraft zu den noch übrigen elf unzeitgemässen Betrachtungen. Ich will wenigstens einmal alles aussprechen, was uns drückt; vielleicht fühlt man sich, nach dieser Generalbeichte, etwas befreiter.
Meine herzlichsten Wünsche begleiten Sie, verehrte und liebe Freundin.
Treulich Ihr
Friedrich Nietzsche.