1874, Briefe 339–411
364. An Erwin Rohde in Kiel
c. 14 Mai 1874. Basel.
Hier, liebster armer Freund, einige Anti-Melancolica! die zunächst mir verordnet worden sind; Du wirst aus ihnen und aus Dir, durch Analogie, entnehmen, was mich quält: doch nicht so, dass ich vor Dir darüber klagen würde, weil ich weiss, wie sehr und wie viel mehr Du leidest. Ich denke öfters, es ist Dir tröstlicher, wenn Du von mir nur das Gute und Entschlossne hörst; aber sieh einmal die mitfolgenden Briefe an — ich gerathe mitunter in eine schreckliche Klagerei und bin immer mir einer tiefen Melancholie meines Daseins bewusst, bei aller Heiterkeit; da aber gar nichts zu ändern ist, lege ich es auf Fröhlichkeit an, suche das, worin mein Elend ein allgemeines ist und fliehe vor allem Persönlich-Werden. Mein Gott, ich rede so dunkel und ungeschickt, Du wirst mich doch verstehen.
Übrigens bin ich wieder stark im Plänemachen, um mich ganz und gar zu verselbständigen und von aller officiellen Beziehung zu Staat und Universität mich in die unverschämteste Singulärexistenz zurückzuziehn, miserabel-einfach, aber würdig.
Einstweilen habe ich Rothenburg ob der Tauber als meine Privatburg und Einsiedelei ausgesucht; im Sommer will ich’s besichtigen. Dort geht es wenigstens noch ganz altdeutsch zu; und ich hasse die characterlos gemischten Städte, die nichts mehr ganz sind. Dann mag’s billig sein. Dort kann man noch seine Gedanken ausdenken, hoffe ich, und Pläne für Jahrzehnte planen und zu Ende bringen.
Meine „Historie“ hat mir aus Florenz einen äusserst sympathischen Brief eingetragen: gänzlich fremde Adresse: E. Guerrieri-Gonzaga. Ein Weib, scheint’s.
Der junge Vischer-Heusler hat unserer Facultät (deren Dekan ich bin) 100,000 frcs geschenkt zur Gründung eines Lehrstuhl’s für Philologie und vergleichende Sprachwissenschaft. — Dem alten Vischer geht es sehr schlecht; greuliche Blasenleiden. — Heinze, mit mir recht gut bekannt, hält morgen seine Antrittsrede „über mechanische und teleologische Weltanschauung“.
Meine nächste Unzeitgemässe heisst „Schopenhauer unter den Deutschen“.
Dr. Fuchs ist mir wieder näher getreten, und ich habe ihm im Stillen alles verziehn, was mich bedenklich gemacht hat. Er laborirt sehr, am Leben, an sich selbst.
Heute soll man gen Himmel fahren — bei eiskaltem und nassem Wetter.
Sei nur ja nicht trostlos als ob Du einsam wärest — Schmerz und Liebe, alles bindet uns zusammen; und dann wollen wir doch einmal ernstlich darüber nachdenken, was zu einer dauernden Vereinigung alles Noth thut.
Wären wir nur ein wenig begüterter! —
Doch ist das Wenigste in diesem Falle schon ausserordentlich viel. Schreib mir doch Deine Gedanken darüber.
Ich wollte den Hymnus schicken; doch habe ich solches Malheur mit Abschreibenlassen, dass ich allen Muth verloren habe.
Nächste Woche ist Wagner’s Geburtstag.
Leb wohl, herzlich geliebter Freund.
Dein Friedrich N.
Die Gefährten, Overbeck und Romundt, tragen mir die besten Grüsse an Dich auf; ebenfalls meine Schwester, die seit zwei Wochen wieder mein Gast ist.