1874, Briefe 339–411
392. An Franz Overbeck und Heinrich Romundt in Basel
<Luzern, 2. Oktober 1874>
Dies nämlich, lieben Freunde, ist mein Hauptquartier, seit Dienstag und soll es bleiben, bis nächsten Dienstag Abend. Dann ist nämlich ein Cyclus von Bädern zu Ende, auf die ich abonnirt bin, um doch etwas für die Gesundheit zu thun oder — mir selber zu thun scheinen. Heute Regentag und grosser Jahrmarkt, zu Ehren des heiligen Leodegar. Vor meinem Fenster spielt Kasperl, und fortwährende Musik: doch werde ich ebenso wenig wie Seneca davon verführt. Meine Nachbarn bei Tische und Mitpensionäre sind Bischof Reinkens und Prof. Knood; der Oberkellner hält mir Reden über die Bedeutung dieser Herrn für die Schweiz und führt den Erfolg der Revisionspartei auf sie zurück. Ich komme, so ganz in der Nähe, aus der ironischen Stimmung nicht heraus: doch sind’s gute Kerle und auch nicht die Spur Bischof, sondern Professoren, wie wir sie kennen. Doch entlockte ich dem guten Knood durch einige dumme Bemerkungen über Olten (Pfarrer Herzog ist auch hier) und russische Eisenbahnbüffets zwischen Petersburg und Moskau die gutmüthige Mittheilung, dass er letztere wohl im nächsten Jahre kennen lernen werde. Ha! dachte ich. — Übrigens lebe ich in göttlicher Harmlosigkeit, spazierengehend und immer bemüht, mir klar zu machen, dass ich 30 Jahre alt werde. Fortwährendes Spazierengehen oder -fahren oder -baden oder -lesen; denn in alledem ist die gleiche Stimmung, des animus spatiandi. Frau Baumann ist gebeten, mein Clavier zu stimmen, den Ofen einmal zur Probe heizen zu lassen und mir zum Dienstag Abend wieder das gute Grahambrod zu beschaffen. Sollte das Wetter wieder schön werden, so kommt vielleicht unser Freund Gersdorff noch ein paar Tage hierher, denn es ist ausserordentlich schön hier und meinen Thurm trage ich mit mir herum, um ihn bald hier bald da und jeden Nachmittag an einem neuen Orte aufzustellen.
Ich denke viel an Euch: wer 30 Jahre alt wird, zählt seinen Schatz auf und frägt sich, ob er es mit dem Leben aufnehmen kann. — Ja, scheint’s.
Und was machen die Correcturen? Und der Termin des 5 ten October? Und die zu erzeugenden neuen Werke, Eier der Baumannshöhlenvögel?
Rohrdommel, beiläufig, heisst eine Hauptperson in Klopstocks Gelehrtenrepublik.
Bitte an Frau Baumann: sie soll das Zimmer für Gersdorff sich einmal ansehen und es mit dem, was noch etwa noththut, Teppiche, Lampe, Blumen usw. versehn; und je mehr sie von meinen Sachen nimmt und hinüberstellt, um so besser.
Und nun lebt wohl, ihr Getreuen
Euer Freund und Bruder
St. Gotthard.