1874, Briefe 339–411
398. An Malwida von Meysenbug in Rom
Basel den 25 October 1874.
Endlich, verehrtestes Fräulein, komme ich wieder dazu, Ihnen etwas von mir zu erzählen, nämlich dadurch, dass ich Ihnen wieder etwas Neues von mir überreiche; aus dem Inhalte dieser letzten Schrift werden Sie genug von dem errathen, was ich inzwischen in mir erlebt habe. Auch dass es mit mir im Verlaufe des Jahres mitunter viel schlechter und bedenklicher stand als im Buche zu lesen steht. In summa aber doch dass es geht, vorwärts geht und dass es mir nur gar zu sehr am Sonnenscheine des Lebens fehlt; sonst würde ich sagen müssen dass es mir gar nicht besser gehen könnte als es geht. Denn es ist gewiss ein hohes Glück, mit seiner Aufgabe schrittweise vorwärts zu kommen — und jetzt habe ich drei von den 13 Betrachtungen fertig und die vierte spukt im Kopfe; wie wird mir zu Muthe sein, wenn ich erst alles Negative und Empörte, was in mir steckt, aus mir heraus gestellt habe, und doch darf ich hoffen, in 5 Jahren ungefähr diesem herrlichen Ziele nahe zu sein! Schon jetzt empfinde ich mit wahrem Dankgefühle, wie ich immer heller und schärfer sehen lerne — geistig! (leider nicht leiblich!) und wie ich mich immer bestimmter und verständlicher aussprechen kann. Wenn ich in meinem Laufe nicht völlig irre gemacht werde oder selber erlahme, so muss etwas bei alledem heraus kommen. Denken Sie sich nur eine Reihe von 50 solchen Schriften, wie meine bisherigen 4, alle aus der inneren Erfahrung heraus ans Licht gezwungen, — damit müsste man doch schon eine Wirkung thun, denn man hätte gewiss vielen Menschen die Zunge gelöst, und es wäre genug zur Sprache gebracht, was die Menschen nicht so bald wieder vergessen könnten und was gerade jetzt wie vergessen, wie gar nicht vorhanden erscheint. Und was sollte mich in meinem Laufe stören? Selbst feindselige Gegenwirkungen werden mir jetzt zu Nutzen und Glücks, denn sie klären mich oftmals schneller auf als die freundlichen Mitwirkungen: und ich begehre nichts mehr als über das ganze höchst verwickelte System von Antagonismen, aus denen die „moderne Welt“ besteht, aufgeklärt zu werden. Glücklicherweise fehlt es mir an jedem politischen und socialen Ehrgeize, so dass ich von da aus keine Gefahren zu befürchten habe, keine Abziehungen, keine Nöthigung zu Transaktionen und Rücksichten; kurz, ich darf heraussagen, was ich denke und ich will einmal erproben, bis zu welchem Grade unsre auf Gedankenfreiheit stolzen Mitmenschen freie Gedanken vertragen. Ich fordere vom Leben nicht zu viel und nichts Uberschwängliches; dafür bekommen wir Alle in den nächsten Jahren etwas zu erleben, worum uns alle Vor- und Nachwelt beneiden darf. Ebenfalls bin ich mit ausgezeichneten Freunden wider alles Verdienst beschenkt worden; nun wünsche ich mir, vertraulich gesprochen, noch recht bald ein gutes Weib, und dann denke ich meine Lebenswünsche für erfüllt anzusehen — Alles Übrige steht dann bei mir.
Nun habe ich genug von mir gesprochen verehrteste Freundin und noch gar nicht verrathen, mit welcher herzlichen Theilnahme ich immer an Sie und an Ihr schweres Lebensloos gedacht habe. Ermessen Sie es an dem Tone unbedingten Vertrauens, in dem ich vor Ihnen von mir spreche, wie nahe ich mich Ihnen allezeit gefühlt habe und wie sehr ich wünschte, Sie hier und da ein wenig trösten und unterhalten zu können. Nun leben Sie aber leider so schrecklich entfernt. Vielleicht aber mache ich mich doch einmal um die nächste Osternzeit auf, Sie in Italien zu besuchen, vorausgesetzt dass ich weiss, wo Sie da zu finden sind. Inzwischen meine innigsten Wünsche für Ihre Gesundheit und die alte Bitte, mir freundlich gewogen bleiben zu wollen.
Treulich
Ihr
ergebenster Diener
Friedrich Nietzsche
Ich bin kürzlich 30 Jahre alt geworden.
Anbei die Photographie meiner Schwester, die nicht mehr bei mir ist.