1874, Briefe 339–411
380. An Elisabeth Nietzsche in St. Romay
Bergün,Hôtel Piz Aela. Mittwoch. <22. Juli 1874>
Meine liebe Lisbeth,
hier leben wir nun, als die Einzigen ihrer Art, obwohl genug Fremde täglich durchkommen. Aber Pensionäre giebt es nicht, weshalb es mir fast scheint, als ob Bergün nichts für Dich gewesen wäre. Ich zahle mit Zimmer 6 frs. für die Pension. Die Gegend ist unmässig schön und viel grossartiger als Flims. Nur vermissen wir das Bad: zwar haben wir ein paar Stunden höher einen See, auch schwammen wir neulich drin herum, doch war es so kalt dass ich roth wie ein Krebs herauskam und mir die Haut etwas geschwollen ist. Die Reise lief gut ab, in Chur trafen wir die ganze Flimser Gesellschaft, Travers Rohrs Hindermanns, und ich hatte eine Art von aufrichtigem Bedauern, nicht mit nach Flims gehen zu können. In Hôtel Lukmanier logirten wir, der Bruder von Prof. Fritz Burckhardt sammt seiner Frau ebenfalls. Morgen<s> ging es um ¾ auf 5 weiter, herrliche Gegenden. Ein Holländer war mein Reisegenosse, gewöhnlich fuhren wir beide in einem Einspännerchen hinter den Posten her. Der Bergüner Stein und das ganze Thal ist wirklich das Schönste, was ich sah.
Viel und glücklich gearbeitet habe ich noch nicht, mich hindert eine kleine Verstopfung, hervorgebracht durch die guten Veltliner Weine. Heute bekam ich einen Brief von der Marchesa Guerrieri, sie kommt in 8 Tagen nach Stachelberg und bittet mich sie dort zu besuchen; was ich natürlich auch thun werde.
Hast Du denn an Frl. von Meysenbug geschrieben? Ich glaube, dies war ihre Adresse
Ischia, villa Micciola
Wie geht es denn mit der Erziehung der Kinder? Als Curiosum noch die Mittheilung, dass ich neulich Abends einmal fast entschlossen war, Fräulein Rohr zu heirathen; so gut hatte sie mir gefallen. Dr. Fuchs hat natürlich wieder geschrieben, 16 Seiten, sehr schön und eine grosse Musik geschickt „Todtentanz“ (nach Goethe) von G. Riemenschneider und arrangirt von ihm und meisterhaft. Auch Fritzsch hat geschrieben und giebt nach, dagegen erwarte ich immer noch des Schmeitzner Antwort.
So, meine geliebte gute Schwester, genug für diesmal. Romundt grüsst und ich wünsche Dir dass Du diesen Brief lesen und verstehen kannst, so wie auch alles sonstige Gute. Schreibe mir bald.
Treulich
Dein Bruder.