1874, Briefe 339–411
384. An Franz Overbeck in Dresden
Bergün, Donnerstag. <30. Juli 1874>
Liebster Freund und Waffengefährte, graues Wolkenmeer um uns und plätschernder Regen seit morgens früh. Dazu Betrachtungen über Reichthum und Ehre und wie unsereinem Beides entgeht und immer mehr entgeht. Trübsinn. Auch Romundts Nase hängt tief.
Trotz alledem sollst Du jetzt einen Brief von den Berghühnern bekommen, und ich will versuchen, alles das aufzuzählen, was uns Gutes und Erquickliches begegnet ist — ausser Deinem Briefe, für den wir recht von Herzen danken.
Erstens hat Schmeitzner in der artigsten Weise Ja! gesagt und freut sich die Unzeitgemässen zu bekommen, hält sie sogar für ein „rentables Unternehmen“. Zweitens hat Fritzsch geschrieben und ist ganz und ohne Sträuben darauf eingegangen, den Verlag der Unzeitgem. aus den Händen zu geben. Drittens bin ich fleissig gewesen und habe vielleicht 84 Druckseiten fertig und zum Absenden bereit gemacht. Allerdings graut mir vor dem, was noch fehlt, ein kleines Capitelchen in der Mitte, vom Schwersten! Schwerzusagendem!
Drittens treffe ich nächsten Montag mit meiner italiänischen Dame Guerrieri in Stachelberg zusammen. Sie schrieb an mich zum dritten Male.
Viertens will ich dann Dienstag nach Bayreuth und dort bis zum Schluss bleiben, Deiner wartend. Gott gebe mir einige Erheiterung, denn man trägt schwer am Leben und sorgt dafür dass es immer schwerer werde.
Fünftens: die Musik Riemenschneiders habe ich mit hierher genommen; wir werden zusammen an ihr unsre Freude haben. Sie ist für mich wieder ein Beweis, dass ich auch die complicirteste Musik mir vorstellen und vorstellend geniessen kann; obwohl etwas Abstractes dabei bleibt und die Sehnsucht nach dem Tone gross ist.
Hier leben wir nun, in einem trefflichen Hôtel, aufmerksam behandelt und nicht übertheuert. Jetzt sind einige Pensionäre hinzugekommen, Würtembergischer Adel, der sich die Frankfurter Zeitung nachschicken lässt. Wir haben bisher gesehen: einen Fels bei der Albulabrücke, zwei einsame Hochthäler trennend und überblickend, wohin ich mir einen Thurm zu bauen gedenke: eine Schwefelquelle in seinem Seitenthal, von uns in Flaschen mit nach Haus gebracht, um Obstruction (durch Veltliner Weine verursacht) zu heben: eine Ziege welche vor Romundts Augen gebar: einen Theateragenten mit zwei Theaterprinzessinnen: in Chur unsre vorjährige Flimser Gesellschaft, Fräulein Rohr dabei: im Hôtel Lukmanier den besten Kellner, der einmal mein Bedienter und Reisemarschall werden soll: in der Nähe des Albulapasses einen See, erschröcklich kalt, so dass ich es acht Tage fast zu büssen hatte, in ihm geschwommen zu haben: einen Schulmeister, der in Amerika war und jetzt etwas höher als Bergün lebt und ein reines Deutsch spricht, der sich aber auch nicht wäscht und badet wie alle Bergbewohner.
Heute wurde uns erzählt dass Auerbach in Tarasp folgende Beobachtung gemacht habe: „am ersten Tage guckt man mich an, am zweiten grüsst man mich, am dritten fragt man „Nun Herr Doctor, wie bekömmt die Kur?“ — Vielleicht antwortet er darauf „Wie mein Rothfuss sagt: man kann nicht nasser werden als nass.«
Gestern las Romundt aus Straussens neuem Glauben vor und wir bemerkten dass einige Sätze Auerbachs würdig sei<e>n.
Sonst wird von mir fast nichts gelesen, von Romundt Wilhelm Meister, über den er nach Tische wie Julian Schmidt zu reden gewohnt ist. Es scheint, die Mahlzeit bildet.
Fast möchte ich glauben, dass Du auch an einem guten Tranke braust, süss und bitter, Arznei und Gift, alles beides je nach der Person, für die er eingegossen wird; ich wenigstens habe einen ganzen Schirlingsbecher für die Philosophieprofessoren zu Stande gebracht — hoffentlich wird er Dir ein reines und süsses Getränk sein!
In herzlicher Gesinnung
Deine Freunde und Mit-gift-höhlenbären.