1874, Briefe 339–411
408. An Carl Fuchs in Berlin
<Basel,> 21 Dez. 1874.
Sie können Sich schwerlich vorstellen, wie sehr Sie mich durch Ihre letzten Mittheilungen erfreut haben. Wirklich, ich dachte vordem mit einem trüben Missmuth an Sie und fürchtete Schlimmes und Schlimmstes, ohne mir irgend welche Kraft beizumessen; um da etwas ändern zu können. Gott weiss wie ich Angesichts aller wirklichen Natur immer zum Fatalisten werde und es auch bei Ihnen wurde, heimlich zu mir sprechend: „dem ist nicht zu helfen.“ Schlimm! Schlimm! Gerade bei denen, wo man helfen könnte, lohnt sich’s nicht. Nun sagen Sie selbst, dass Sie eine gefährliche Crisis hinter sich haben; ich stelle diese mir als ein moralisches Kindbettfieber vor, wie es einzutreten pflegt, wenn man etwas Ordentliches gethan, sich rechtschaffen bezwungen hat und hinterdrein um so mehr zusammenknickt und eine Zeit lang etwas bettlägerig ist; in dieser Schwäche greift man dann leicht nach dem Falschen und erweckt Angst und Bangen. In seinen Hauptsachen muss sich nun der Mensch rein halten, ist meine stille Anforderung an Jedermann, während ich ziemlich tolerant, ja lax und nachlässig in den Nebensachen bin, bei mir und Anderen. Sie verzeihen es mir gewiss, wenn ich Ihnen es sage: es kam mich in diesem Spätsommer ein Schauer und Zweifel an; aus der Ferne lässt sich so etwas nicht leicht gut machen und durch offenherzige Briefe wird hier und da manches schlechter gemacht. Kurz, ich nahm mir vor etwas zu warten und zwar auf Handlungen und Thatsachen zu warten.
Darüber vernehme ich nun genug aus Ihrem letzten Briefe und nur Dinge von der tröstlichen und wiedergutmachendsten Art. Nun haben Sie die kleine Stadt entdeckt, wo Sie zum musikalischen Herren und Obersten heranwachsen können, wo es möglich ist pflanzen und ernten zu können und wo nicht der „böse Feind“ Ihnen die Saat verdirbt und die Freude der Arbeit nimmt. Wer möchte Ihnen nicht gerne längst dazu verholfen haben! Aber es nützte nichts, wenn Sie sich nicht dazu verhalfen und sich zu dieser Auffassung der Dinge hinab oder hinaufstimmten. (Beiläufig: als Sie mir die Mittheilung über die Mainzer Sache machten und das documentum illustre vorlegten, so habe ich in der nächsten Viertelstunde nach Bayreuth darüber geschrieben und angefragt ob etwas zu thun sei, schickte auch das documentum mit, hatte aber sofort das Gefühl bei dieser Sache und bei diesem Verfahren kein Glück zu haben und hatte auch keines). Ihre Künstler-Reiseabenteuer, Ihre Künstler-Rache an den Breslauern und überhaupt alles was Sie mittheilen und wie Sie es mittheilen hat etwas von Freiheit und Errettung an sich worüber ich mich immerfort freue; so konnten Sie sich nur selbst helfen. Mein Freund Gersdorff hat Sie in Bunzlau gehört, schickte das Programm und schrieb erbaut und ergriffen zumal über Ihren Vortrag Bach’s.
Wenn Sie die Preisschrift über den Ring des Nibelungen lesen, werden Sie merken, dass mit ihr Niemandem etwas weggenommen ist; während Sie wohl schon wissen, dass Ihnen Niemand etwas von dem wegnehmen kann, was wirklich das Ihrige ist und was Sie allein können. Kommen Sie im nächsten Sommer (1875) nach Bayreuth, zu den Proben? Ich bin dort von Mitte Juli bis Mitte August. Sehen Sie doch ja zu, dass Sie kommen. Ich meine, man muss dabei sein, sonst giebts gar kein „Muss“ mehr.
Und nun ein herzliches Lebe- und Reisewohl und alles Gute und Getreuliche dem Getreuen.
Ihr ergebenster
Fr. Nietzsche.
auch im Namen Overbecks, der bereits in die Ferien gereist ist.