1874, Briefe 339–411
344. An Malwida von Meysenbug in San Remo
Basel 11 Febr. 1874.
Verehrte Freundin!
Ich wußte gar nicht mehr, wo ich Sie mit meinen Gedanken suchen sollte; von Gersdorff erfuhr ich nur, daß Ihre Bayreuther Existenz ein Ende erreicht habe; nun höre ich, wo Sie sind, einsam und krank, so daß ich am liebsten gleich Ihnen nachgereist wäre, wenn es nur irgendwie mit meinem Amt, mit meinen Pflichten verträglich wäre. Dafür verspreche ich Ihnen einen Besuch in Rom. Oder wäre es nicht in Erwägung zu ziehen, ob Genf oder Lugano Ihrer Gesundheit wohlthut; zeitweilig habe ich selbst daran gedacht, Ihnen Basel vorzuschlagen, denn bis jetzt haben wir einen milden und sonnigen Winter gehabt, und erst seit gestern giebt es Schnee und wirkliche Kälte. Wenigstens weiß ich, daß der Unterschied unseres Klimas mit dem Bayreuther bedeutend ist, und daß wir das Blühen der Bäume fast vier Wochen früher haben. Sehen Sie in diesem Vorschlage nichts, als den herzlichsten Wunsch, Ihnen einmal wieder näher gerückt zu sein; denn ein Leiden haben wir mit einander gemeinsam, welches schwerlich andere Menschen so stark empfinden, das Leiden um Bayreuth. Denn, ach, unsere Hoffnungen waren zu groß! Ich versuchte erst, gar nicht mehr an die dortige Noth zu denken, und, da dies nicht angieng, habe ich in den letzten Wochen so viel als möglich daran gedacht und alle Gründe scharf geprüft, weshalb das Unternehmen stockt, ja weshalb es vielleicht scheitert. Vielleicht theile ich Ihnen später etwas von diesen Betrachtungen mit; zunächst, nämlich etwa in vierzehn Tagen, bekommen Sie etwas anderes von mir, die von Ihnen erwartete Numero 2 mit dem Titel „vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.“ Die Numero 2 erinnert mich daran, daß man gestern in Ludwigsburg David Strauß begraben hat.
Und was macht Frau Monod, und ist es wahr, daß sie einen Knaben geboren hat?
Sie sehen, ich diktirte bis jetzt, also geht es meinen Augen nicht gut. Doch jedenfalls besser. Ach könnte ich Ihnen helfen! Oder irgendwie nützen! Ich denke mit Mitleiden an Sie Arme und bewundere, wie Sie das Leben zu ertragen wissen. Dagegen gerechnet bin ich ein Glücksprinz und muss mich schämen. Meine Wünsche sind um Sie!
Ihr Friedr. Nietzsche