1874, Briefe 339–411
356. An Carl von Gersdorff in Ostrichen
Basel erster April. 1874.
Lieber getreuer Freund, wenn Du nur nicht eine viel zu gute Meinung von mir hättest! Ich glaube fast, dass Du Dich einmal über mich etwas enttäuschen wirst; und will selbst anfangen dies zu thun, damit dass ich Dir, aus meiner besten Selbsterkenntniss heraus erkläre, dass ich von Deinen Lobsprüchen nichts verdiene. Könntest Du wissen, wie verzagt und melancholisch ich im Grunde von mir selbst, als producirendem Wesen, denke! Ich suche weiter nichts als etwas Freiheit, etwas wirkliche Luft des Lebens und wehre mich, empöre mich gegen das viele, unsäglich viele Unfreie, was mir anhaftet. Von einem wirklichen Produciren kann aber gar nicht geredet werden, so lange man noch so wenig aus der Unfreiheit, aus dem Leiden und Lastgefühl des Befangenseins heraus ist: werde ich’s je erreichen? Zweifel über Zweifel. Das Ziel ist zu weit, und hat man’s leidlich erreicht, so hat man meistens auch seine Kräfte im langen Suchen und Kämpfen verzehrt: man kommt zur Freiheit und ist matt wie eine Eintagsfliege am Abend. Das fürchte ich so sehr. Es ist ein Unglück sich seines Kampfes so bewusst zu werden, so zeitig! Ich kann ja nichts von Thaten entgegenstellen, wie es der Künstler oder der Ascet vermag. Wie elend und ekelhaft ist mir oft das rohrdommelhafte Klagen! — Ich hab’s augenblicklich etwas sehr satt und über.
Meine Gesundheit ist übrigens ausgezeichnet: sei ganz unbesorgt. Aber ich bin mit der Natur recht unzufrieden, die mir etwas mehr Verstand, nebst einem volleren Herzen, hätte geben sollen — es fehlt mir immer am Besten. Das zu wissen ist die grösste Menschenquälerei.
Die regelmässige Arbeit in einem Amte ist so gut weil sie eine gewisse Dumpfheit mit sich bringt, man leidet so weniger.
Im Herbst also — ach Du verstehst das „Also“ doch? müssen wir uns sehen, beim concilium subalpinum sive Rhaeticum. Wenn wir alle zusammen sind, kommt ein ganzer Kerl heraus, der keinen Grund hat sich zu betrüben. Gemeinsam und zusammen sind wir ein Wesen, welches „Freude trinken“ darf — an den Brüsten der Natur. Sage mir doch ganz genau, wann es Dir erlaubt ist hierher zu kommen? Rohde hat im letzten Briefe definitiv zugesagt. Overbeck auch, Romundt (seit gestern unser Hausgenosse) auch. Ich der ich die wenigsten Ferien habe denke doch die erste Hälfte des October zur Disposition zu sein. Kannst Du diese Zeit uns schenken? — Lieber theurer Freund! —
Hast Du zufällig gehört, dass Prof. Plüss in Schulpforte, Nachfolger Volkmann’s, in der Naumburger Litteraria einen „begeisterten“ Vortrag über Geburt der Trag. und die Straussiade gehalten hat? Sehr scherzhaft und unglaublich, nicht wahr? — Dr. Fuchs, im musikal. Wochenblatt, ist sehr dreist und hat es dadurch, wie durch manche Zudringlichkeit, mit Overbeck und mir verdorben. — Die gute Meysenbug schickte mir schöne frische Blumen, Frühlingsboten vom mittelländischen Meere.
Ich lege einen schönen und auch für Dich lehrreichen Brief Rohde’s bei; gelegentlich wieder zurückzugeben!
Herrliche Briefe der Bayreuther.
Dank für die Druckfehler: aber der wichtigste fehlt, Höderlin für Hölderlin. Aber nicht wahr, es sieht wunderschön aus? Aber es versteht kein Schwein.
Meine Schriften sollen so dunkel und unverständlich sein! Ich dachte, wenn man von der Noth redet, dass solche die in der Noth sind, einen verstehen werden. Das ist auch gewiss wahr: aber wo sind die, welche „in der Noth“ sind?
Erwarte jetzt nichts Litterarisches von mir. Ich habe für mein Sommercolleg viel vorzubereiten und thue es gern (über Rhetorik).
Übrigens ist viel seit Weihnachten durchdacht und ausgedacht worden.
Sei herzlich gegrüsst und grüsse Deine verehrten Eltern.
Ja wenn man keine Freunde hätte! Ob man’s noch aushielte? ausgehalten hätte? Dubito.
Fridericus.