1874, Briefe 339–411
393. An Erwin Rohde in Hamburg
Basel den 7ten October 1874.
Gestern Abend, mein lieber Freund, kam ich aus den Bergen zurück und heute morgen soll das nun bevorstehende Winterleben mit einem Geburtstagsbriefe an Dich begonnen und eingesegnet werden. Es fehlt mir nicht an Muth und gutem Vertrauen: das habe ich aus der Stille der Berge und Seen mitgebracht, wo ich recht bald bemerkte, woran es einem fehlte oder vielmehr woran man ein Übermass hatte. Nämlich an Egoismus; und das kommt von dem ewigen Für sich-Fortbrüten und Fortleiden. Zuletzt fühlt man sich fortwährend, als ob man hundert Narben hätte und als ob jede Bewegung wehe thäte. Aber wahrhaftig, nun werde ich nächstens 30 Jahre, da muss es ein wenig anders werden, nämlich männlicher und gleichmässiger und nicht mehr so verdammt auf und nieder. Sein Werk fortsetzen und dabei so wenig als möglich an sich denken — das muss es wohl sein, was noth thut. Ich kam mir bei einiger Besinnung recht undankbar und albern vor, mit meiner quälerischen Verzagtheit: denn ich dachte daran, wie unvergleichlich ich eigentlich durch die letzten 7 Jahre hindurch beschenkt worden bin und wie ich nicht genug empfinden kann, was ich an meinen Freunden habe. Eigentlich lebe ich ja durch Euch, ich gehe vorwärts, indem ich mich auf Euch stütze; denn mit meinem Selbstgefühle steht es schwach und erbärmlich, und Ihr müsst mir immer wieder mich mir selber gewährleisten. Dazu seid Ihr mir die besten Vorbilder; denn sowohl Du als Overbeck, Ihr tragt das Lebensloos würdiger und mit weniger Klagen, obschon Du es in manchem Sinne schlechter und beschwerlicher hast als ich. Und am meisten empfinde ich es, wie ihr mich weit gerade durch liebevolle Gesinnung übertrefft und an Euch weniger denkt. Darüber habe ich viel in der letzten Zeit nachgesonnen; dies darf ich Dir bei Gelegenheit eines Geburtstagsbriefes schon sagen.
Ich war mit Romundt und Baumgartner ein paar Tage auf dem Rigi, dann eine gute Woche allein in Luzern. Meine Tischnachbarn waren der Bischof Reinkens und Professor Knood. Heute Abend ist die Taufe von Immermann’s Jüngstem; wir Drei assistiren dabei. Ich war mehreremal in Tribschen und vermisste viel, viel; mit der Gräfin Bassenheim in Luzern schüttete ich das Herz aus, auch sie fühlt sich durch Wagners Fortgang ganz und gar „enterbt“ und hatte offenbar eine grosse Freude etwas Neueres und Genaueres über Baireuth zu hören. Gersdorff kommt erst gegen den 12 October, Du siehst, wie unsere Herbstzusammenkunft ganz in Stücke zerfällt, denn er kommt wieder in eine Arbeitszeit hinein, da meine Stunden mit dem 10ten beginnen. Overbeck ist noch im Corrigiren drin, ich bin damit fertig und erwarte stündlich das Eintreffen der fertigen Exemplare, damit sogleich eins derselben an Dich abgehen könne. Inzwischen ist mir der Inhalt der Nr. 4 ungefähr aufgegangen: was mich sehr erfreut hat, da ich es wie ein Geschenk hinnehme. Romundt hat litterarische Absichten; privatim gründet er den Staat und die Religion. Dr. Fuchs hat durch Übersendung von Grüssen und Concertzettel ausgedrückt, dass es noch nicht aus ist; und Overbeck hat ihm einen guten ehrlichen Brief über alle unsere Beschwernisse geschrieben. Baumgartner hat mir ein grosses Bild von sich hinterlassen, das ganz ausgezeichnet gelungen ist. Krug und Pinder reisen mit ihren Ehegattinnen herum und treffen mit einander in Heidelberg zusammen; ich habe leider Krugen verfehlt, ebenfalls Deussen, der auch durch Basel reiste und mich sprechen wollte.
Geld und Schlüssel ist angekommen, ich danke schönstens. Gersdorff soll in das gleiche Logis, wir wollen zusammen recht viel Deiner denken. Wenn Dein Roman fertig ist, so telegraphire, ich bitte Dich, damit wir ein kleines Fest a tempo feiern können. Wenn ich nur wüsste, wie Du Dir etwas Musik schaffen könntest, Musik unserer Art!
Draussen ist der sonnigste Herbst und ich habe so schöne Trauben auf dem Tische, dass ich nur wünschte, Du könntest sie essen, und wir sässen beisammen, ich spielte Dir etwas vor; auch famose Cigaretten habe ich aus Luzern mitgebracht. Das ist nun Alles wieder vorüber.
Leb wohl, mein lieber theurer Freund und bleibe mir so zugethan, wie bisher — dann wollen wir’s schon noch eine Weile auf Erden aushalten.
Dein
getreuer
Friedrich Nietzsche
Da fällt mir ein, dass ich ja ein fertiges Exemplar der Nr. 3 besitze, freilich nur in Aushängebogen. Immerhin, es kommt zur rechten Zeit, wenn es gerade zum 9ten kommt.