1875, Briefe 412–495
492. An Paul Rée in Paris
Basel, den 22 October 1875.
Lieber Herr Doctor, ich habe mich viel zu sehr über Ihre psychologischen Beobachtungen gefreut, als dass ich es mit Ihrem Todten-Incognito („aus dem Nachlass“) so ernst nehmen könnte. Beim Durchstöbern einer Menge neuer Bücher fand ich neulich Ihre Schrift und erkannte auf der Stelle einige jener Gedanken als Ihr Eigenthum wieder, und ebenso ergieng es Gersdorff, der aus der früheren Zeit noch neulich mir citirte „behaglich mit einander schweigen zu können soll ja ein grösseres Zeichen von Freundschaft sein als behaglich mit einander reden zu können, wie Rée sagte.“ Sie leben also noch in mir und meinen Freunden fort, und nichts hatte ich damals als ich Ihr von mir so hochgehaltenes Manuscript in den Händen hatte, mehr zu bedauern als gerade durch ein starkes Augenleiden zu absoluter Entsagung im Briefeschreiben gezwungen zu sein.
Ich bin ferne davon, mir es herauszunehmen Sie zu loben, ebenso wenig will ich Sie mit irgend welchen „Hoffnungen“ belästigen, die ich etwa auf Sie setze. Nein! wenn Sie nie etwas anderes drucken lassen, wie diese geistbildenden Maximen, wenn diese Schrift wirklich Ihr Nachlass ist und bleibt, so soll es gut und recht sein: wer so selbständig lebt und für sich daher geht, hat das Recht sich auszubitten, dass man ihn mit Lob und Hoffnungen verschone. Nur möchte ich Sie für den Fall irgend einer Publications-Absicht darauf aufmerksam machen, dass Sie immer mit Sicherheit auf meinen Verleger, Herrn E. Schmeitzner in Schloss-chemnitz rechnen können. Ich sage dies namentlich deshalb, weil das Einzige, worüber ich mich bei Ihrer Schrift nicht freute, die letzte Seite war, auf der die Schriften des Herrn E. von Hartmann hinter einander her prangen; die Schrift eines Denkers sollte aber auch nicht einmal auf Ihrem Hintertheil an die Schriften eines Scheindenkers erinnern.
Mit recht guten Wünschen für Ihr leibliches Wohl und der Bitte meinen Dank dafür freundlich aufzunehmen, dass Sie Ihre Maximen überhaupt der Öffentlichkeit übergeben haben — womit Sie zeigen, dass Ihnen das geistige Wohl Ihrer Mitmenschen am Herzen liegt,
bin und bleibe ich
der Ihrige
Friedrich Nietzsche.