1875, Briefe 412–495
453. An Erwin Rohde in Kiel
Basel 7 Juni 1875.
Mein lieber Freund, ich schreibe nicht! Du wirst aber gewiß schon errathen haben, warum nicht; weil mir’s nicht gut gegangen ist. Es stand Elend mit Magen und Augen; aber heute will ich Dich nur damit erfreuen, daß ich auch im Stande bin, mich zu etwas Radikalem zu entschließen. Erfreuen? Gott weiß, wenigstens hat der Radikalismus auch hier seinen berühmten Hinkfuß. Also: meine Schwester und ich sind eben damit beschäftigt, hier eine Wohnung zu miethen, Meubles zu kaufen usw., kurz, um eine meinen Nöthen angemessene und heilsame Existenz von Mitte dieses Jahres an zu beginnen. In den Hundstagen werde ich freilich nicht nach Bayreuth kommen — dies ist der Hinkfuß — sondern in’s Bad müssen, wohl nach Pfäffers. Alles ist sehr nöthig. In Aussicht auf diese schönen Neuerungen athme ich recht auf.
Das Semester ist recht mühsam, da ich alle meine Collegien lese. Ich wohne in Overbecks Zimmern, meine Schwester in meiner Wohnung. In Romundts Zimmer wird vom Herbst an der junge Baumgartner ziehn.
Zu Unzeitgemäßheiten habe ich weder Zeit noch Kraft.
Die französische Übersetzung der Nr. 3 hat trotz vielem Suchen keinen Verleger gefunden. Schmeitzner hat 350 Exemplare davon abgesetzt. Kannst Du ihm Dein Buch anbieten? Es wäre ihm ein großer Gewinn. Übrigens möchte er gerne Schriften über Indisches und Chinesisches herausgeben; weißt Du da einen Rath zu geben?
Von Overbeck nehme ich an, daß er seine Cur heute in Carlsbad beendigt. Seine Briefe sind heiter, obschon das Wasser sehr rumoren mag. Romundt hat in Sachsen nichts gefunden, jetzt hat er auf Hannover’sche Gymnasiallehrerstellungen sein Auge. Wir haben schwere und wechselvolle Winterwochen verlebt, eigentlich lag ein böser Nebel über dem Hause; der Abschied war höchst beschwerlich und schmerzlich, ich möchte dieser Zeit Ähnliches nicht wieder erleben.
Wir sitzen alle so einsam auf unserem Leuchtthurm — und wenn es nur immer ein Leuchtthurm wäre!
Dieser Theil des Lebens ist hart, man hat ja noch nicht recht resignirt. Man sieht sich selber aber schon recht deutlich. Doch ist der Anblick so, daß ich mitunter viel zu viel Muth und Hoffnung habe und wenn ich dann abrechne mit dem, was uns umgiebt, und worauf zu wirken ist, ist mirs, als ob ich nicht einen Finger mehr bewegen könnte. Es wird Dir auch so gehen?
Tragen wir die schweren Dreißiger, lebwohl mein lieber Freund, non olim sic erit.
Deiner oft und immer
mit Liebe eingedenk
Friederich.
Hast Du Briefe von Wagner und Frau, die mir gehören, bitte, so schicke sie mir.