1875, Briefe 412–495
469. An Marie Baumgartner in Lörrach
Steinabad bei Bonndorf badischer Schwarzwald Montag den 19 Juli 1875.
Da bekommen Sie Nachricht von mir, liebe Frau Baumgartner, mitten heraus aus einem tiefen Schwarzwaldthale, durch das augenblicklich der Regen braust (und nicht nur für einen Augenblick! ich könnte eher schreiben wie jener ungarische Kornspeculant: „so eben beginnt ein schöner zwölfstündiger Regen.“) Der Arzt, dessen wegen ich hierher gieng, Dr. Wiel, ein alter sehr erfahrner und weithin bekannter Magenspecialist, hat mir einen sehr guten Eindruck gemacht, das Bad selbst, mit ungefähr 40 Personen, erscheint mir seit gestern vortheilhafter, weil ich inzwischen ein besseres und vor allem ruhigeres Zimmer bekommen habe. In der zweiten Nacht wurde ich über rücksichtslosen Lärm in den Parterreräumen wüthend und liess endlich die Stimme zu allgemeinem Schrecken und Verstummen ertönen. Mein Befinden war nur am ersten Tag gut; gestern lag ich zu Bett, der Kopfschmerzen wegen und heute geht es schwach und matt zu. Der Dr hat mich sorgfältig untersucht und nach allen Symptomen und Beobachtungen „einen chronischen Magenkatarrh mit bedeutender Erweiterung des Magens“ constatirt. Ich nehme Morgens Karlsbader Sprudelsalz, habe einen sehr genauen Speisezettel (möglichst geringe Masse von Speisen, deshalb alles vom Kräftigsten — fast nur Fleisch, kein Wasser, keine Suppe, kein Gemüse, kein Brod —) heute Nachmittag bekomme ich Blutegel an den Kopf. So steht es also bis jetzt. Gesellschaft für mich ist nicht vorhanden. Um mir rechte Zerstreuung zu machen, treibe ich eine Wissenschaft, zu der ich bisher fast keine Zeit hatte und die es verdient Zeit für sie ausfindig zu machen „Handels-betriebslehre und die Entwicklung des Welthandels“, nebst National- und Socialökonomie.
Der erste Brief, der hier eintraf, war von Frau Wagner aus Bayreuth, und bereits die erste Seite enthielt ein Anliegen, das mehr an Sie als an mich addressirt ist. Bitte lesen Sie den mitfolgenden Brief und sehen Sie zu, ob Sie Wagners den erbetenen Dienst erweisen können. Es handelt sich um die Bestellung von Confitures aus Strassburg. Die Addresse von Frau W. ist einfach
Frau Cosima Wagner
geb. Liszt
in Bayreuth
(Königreich Baiern)
Die Bezahlung wird der Strassburger Correspondent des Banquier Feustel in Bayreuth übernehmen. Übrigens habe ich an Schmeitzner geschrieben, er solle das Manuscript nach Bayreuth an Frau W. absenden. — Wenn Sie noch etwas für meine Rechnung hinzu bestellen wollten, so wären dies schöne Datteln, ein paar Pfund, für die Kinder, namentlich den kleinen Siegfried. Doch müsste meine Sendung separat sein, sonst entsteht mit der Bezahlung grosse Verwirrung. Wohl auch bei einem andren Lieferanten. — Die Datteln wollten wir schon von Basel aus schicken, es gab aber dort keine guten; es ist auch mit dem Zoll so umständlich.
Mache ich Ihnen viele Mühe, verehrteste Frau? Ich fürchte fast!
Hoffentlich hörten Sie inzwischen etwas Tröstlicheres von Adolf, hoffentlich empfinden Sie auch eine gute Nachwirkung des Seelisberger Aufenthaltes. Mit diesen guten Hoffnungen und überhaupt mit viel guten Wünschen entsende ich Ihnen meine herzlichsten Grüsse.
In treuer Ergebenheit
der Ihrige
Dr Friedrich Nietzsche.