1875, Briefe 412–495
422. An Erwin Rohde in Kiel
<Basel,> 5 Febr. 1875.
Es ist schrecklich, mein lieber treuer Freund, wie die Monate hinfliegen und wie man wacht und schläft und nach Luft schnappt, aber noch schrecklicher sich zu denken dass es dem fernen Genossen eben so geht und dass man sich so wenig helfen kann. Ich wünschte sehr von Dir zu hören, dass Du gesund bist und Deinen Roman so gegen das Ende hin geführt hast. Mir ist es übrigens in diesem Jahre so, als ob ich mir jede unzufriedne Regung verbieten müsste, denn zuletzt heisst es doch viel Gunst und Bevorzugung von Seiten der Göttin τύχη, gerade als Zeitgenosse der Bayreuther Jahre zu leben; das Gefühl der Dankbarkeit dafür sollte mich nicht verlassen! Aber Du weisst den traurig-menschlichen Sinn eines solchen „es sollte“. Mitunter zweifele ich fast daran, ob ich diese heiss und allzulange ersehnten Freudenfeste wirklich aushalten werde, mir dreht sich schon jetzt rein bei der Vorstellung davon das Herz um; man hat zu viel und zu lange entbehrt und gelitten. Nein, wie lebt man nur!
In Bayreuth ist jetzt wieder die leidige Nothwendigkeit da, dass Wagner und Frau zu Concertreisen nach Wien und Pesth fortmüssen. Während der Abwesenheit wird meine Schwester auf Frau Wagner’s Wunsch das Bayreuther Hauswesen leiten, sie wird jetzt wohl schon dort sein. Ich bin sehr glücklich über dieses grosse Zeichen von Vertrauen.
Meine dritte Unzeitgemässe ist inzwischen von Frau Baumgartner-Köchlin sehr schön ins Französische übersetzt worden. Jetzt suchen wir einen Verleger in Paris.
Adolf Baumgartner hat mir wieder ein dickes rothes Heft, das vierte, übersandt; er hat es als Husar in Bonn ausgearbeitet. Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Der kommt auch nach Bayreuth.
Gersdorff hat sich für den Anfang des nächsten Monates hier angemeldet. Der Gute, Trefflichste! Wir freuen uns herzlich darauf.
Weihnachten gab es viel Zusammensein mit Krug und Pinder. Ich sage Dir: wir haben eine ewige Jugend im Leibe, gegen diese dreissigjährigen Greise.
Romundt hat sich nun fest entschlossen, von Ostern die Universität zu verlassen, aber er ist leider keinen Schritt weiter zu bringen. Er macht uns mit einer störrigen Phantasterei (ach, ohne Phantasie!) rechte Sorge.
Overbeck wälzt kirchengeschichtliche Jahrhunderte vor sich her und schwitzt sehr bei dieser Winter-Arbeitsnoth.
Ich habe mir mehreres ausgedacht.
Übrigens ist Weihnachten der Hymnus auf die Freundschaft herrlich zum Ziele geführt worden. Für zwei Hände. In den seltensten Stunden arbeite ich jetzt, alle paar Wochen zehn Minuten, an einem Hymnus auf die Einsamkeit. Ich will sie in ihrer ganzen schauerlichen Schönheit fassen.
Im Colleg über griech. Litterat. ist nun auch die Lyrik abgethan, jetzt beginnt das Drama. Ich lerne dabei recht von Schritt zu Schritt. Ich finde, dass unsern griechischen Philologen eins fehlt, die leidenschaftliche Lust an den starken und eigenthümlichen Zügen. Und eins fehlt ihnen leider nicht: der grässliche Hang zur Apologie der Griechen.
Gute Nacht liebster Freund.
Dein getreuer Fridericus
N.
Das Gespenst hat sich spüren lassen, mit einem Paket lyrischtoller Gedichte.