1875, Briefe 412–495
441. An Auguste Pinder in Naumburg
<Basel, 5.> Mai 1875.
Verehrteste Frau
da ich etwas verreist war, bin ich erst ziemlich spät in den Besitz der höchst schmerzlichen Nachricht gelangt, derentwegen ich heute an Sie schreibe. Ich möchte Ihnen nur sagen, wie auch ich mich mit beraubt fühle und wie es mir Mühe macht, mich an dieses Beraubtsein zu gewöhnen. Mir ist es als ob Naumburg in meiner Vorstellung sich verändere, wenn ich gezwungen werde, das Bild des verehrten Entschlafenen daraus hinwegzudenken, ich glaube eine unbegreifliche Lücke zu sehen und für die vielen guten und dankbaren Empfindungen mit denen ich gewohnt war, an das Pindersche Haus zu denken habe ich einen plötzlichen und gewiß lange währenden Schmerz eintauschen müssen.
Sie nehmen gewiß, hochverehrte Frau, den Ausdruck meiner Klage freundlich an und denken einen Augenblick an die Zeiten zurück, wo Wilhelm und ich Knaben waren und wo wir zusammen in allem unsern Denken und Wünschen durch Wort Rath und Vorbild desselben Mannes geführt wurden, dessen Verlust ich jetzt mit Ihnen so schmerzlich betrauere.
Ich verbleibe allezeit Ihr Ihnen und Ihren Angehörigen treulich zugethaner
Dr Friedrich Nietzsche
in Basel.