1875, Briefe 412–495
457. An Carl von Gersdorff in Hohenheim
<Basel, um 26. Juni 1875>
Mein lieber Freund, meine Schwester dankt Dir herzlich für Deinen Brief und Deine treue Sorge, ich will Dir aber doch selber melden, wie mir’s geht. Ich habe eine sehr schlimme Zeit hinter mir und vielleicht eine noch schlimmere vor mir. Der Magen war gar nicht mehr zu bändigen, auch bei der lächerlich strengsten Diät, mehrtägige Kopfschmerzen der heftigsten Art, in wenig Tagen wieder kommend, stundenlanges Erbrechen, ohne etwas gegessen zu haben, kurz, die Maschine schien in Stücke gehen zu wollen und ich will nicht leugnen, einige Male gewünscht zu haben, sie wäre es. Grosse Abmattung, mühsames Gehen auf der Strasse, starke Empfindlichkeit gegen Licht; Immermann kurirte auf so etwas wie ein Magengeschwür, und ich erwartete immer Bluterbrechen. Ich musste 14 Tage lang Höllenstein-Auflösung einnehmen, es half nichts. Jetzt giebt er mir täglich zweimal ausserordentlich grosse Dosen von Chinin. Er will, dass ich in den Ferien nicht nach Bayreuth gehe, ich sage gar nichts darüber, Du kannst Dir denken, wie mir zu Muthe ist. Indessen möchte ich gerne das nächste Jahr noch erleben und will deshalb in diesem Jahre thun, was ich soll. — Unter solchen Umständen wurde es zur Nothwendigkeit, mich mit Hülfe meiner guten Schwester häuslicher einzurichten; wir haben eine Wohnung, nahe an der alten, und beziehn sie nach den Sommerferien. Ich habe meine Vorlesungen und Stunden bei alledem fortgesetzt und nur an den schlimmsten Tagen, wo ich immer zu Bette liege, unterbrochen. Wohin ich die Ferien gehe, hängt vom Erfolg der jetzigen Kur ab, jedenfalls in ein Bad. Ich hoffe sehr viel von der neuen Häuslichkeit mit meiner Schwester zusammen, wir wollen zusehen, eine recht exacte Lebensweise zu erfinden.
Dass ich nicht muthlos bin, kannst Du daraus sehn, dass ich neulich einen Entwurf für meine Collegien auf 7 Jahre hin gemacht habe. Aber viel Quälerei hat das Leben. Zudem haben Krankheiten etwas Würdeloses und sind nicht einmal ein Unglück.
Willst Du in Bayreuth darauf vorbereiten, dass ich im Juli nicht kommen werde? Wagner wird recht böse sein, ich selbst bin es auch. Übrigens habe ich doch noch zu seinem Geburtstag geschrieben, mit vieler Überwindung, denn es ging mir übel. Es ist etwas Herrliches darum, wie er’s aushält.
Lebe wohl mein lieber
Freund.
Ist Miaskowski berufen? Ich habe ihn seitdem nicht gesprochen, er wartete gewiss sehr darauf. Übrigens wäre es die höchste Zeit, denn jeder hier Angestellte muss 4 Monate vor dem Anfang des nächsten Semester (1 Nov.) seine Entlassung begehren.