1875, Briefe 412–495
442. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Basel Mittwoch vor Himmelfahrt. <5. Mai 1875>
Meine liebe gute Mutter und Schwester,
da es mir nicht gut ging und ich mich schlecht und angegriffen fühlte, auch zweimal zu Bette liegen mußte, so half ich mir endlich und ging eine Woche lang nach Bern, um dort spazieren zu gehen. Gestern bin ich recht erholt zurückgekommen und habe heute das Sommersemester mit einer Stunde begonnen. Ich lebte in Bern in dem Hôtel Victoria auf dem Schänzli, war der einzige Gast des Hôtels und hatte das schönste Zimmer mit dem Balkon der ersten Etage. Dabei wurde ich sehr gut und billig behandelt und ich konnte meiner Leidenschaft für Allein-Leben und Allein-Gehen die Zügel schießen lassen; lief also täglich 8 Stunden in den herrlichen Umgebungen Berns herum und dachte nach. — Zurückkommend finde ich nun Eure Briefe und die traurige Nachricht vom Tode des guten Rath Pinder. Ich habe heute der Frau Räthin geschrieben. Es thut mir recht sehr leid. — Overbeck verläßt mich nächsten Montag, um seine Cur in Carlsbad zu beginnen. Vom Herbst an zieht Herr Adolf Baumgartner mein Schüler und Freund, in unser Haus und zwar in das Romundtische Zimmer.
Was die Farbe des Rockes betrifft, so dächte ich, schwarz wäre das Beste für so einen gelehrten Nachtwächter, wie ich nun einmal bin. —
Unsre Briefe haben sich gekreuzt, es thut mir leid euch in Besorgniß versetzt zu haben. —
Von Bayreuth weiß ich gar nichts. Aber der Clavierauszug der Götterdämmerung ist in den Buchhandlungen erschienen, ich habe schon einen Blick hineingeworfen. Das ist der Himmel auf Erden.
Ich will in diesen Tagen einmal an Frau Wagner schreiben. Nicht wahr, zum 22ten Mai als zu Wagner’s Geburtstag, schreibst Du auch, liebe Lisbeth?
Warum soll ich denn dem Lichtenstein ein Exemplar schicken? Wenn er einen Werth darauf legt, eins gerade von mir zu haben, gut, dann soll’s sein, doch nicht sehr gerne. Man erscheint diesen Leuten gegenüber immer so als ob man was von ihnen wollte; das ist so ekelhaft, zumal für mich Schweizer.
Sonntag vor 8 Tagen war ich mit Overbeck bei Turneysens zu Mittag. Besuche habe ich gemacht, auch bei Frau Fürstenberger, zum Dank für die Ball-Einladung.
Jetzt will ich mich nun an die Nr. 4 machen, ich wünsche mir ein wenig Erheiterung und gutes Wetter.
Lebt recht wohl und behaltet lieb
Euren alten
Fritz.
Danke recht schön für das Grab Schopenhauers, meine liebe Mutter.