1875, Briefe 412–495
471. An Carl von Gersdorff in Hohenheim
<Steinabad,> den 21 Juli. <1875>.
Ja, liebster Freund, Du kommst mir nur um ein klein wenig zuvor, denn als ich meinen letzten Brief an Dich abgelassen, fiel mir erst ein, wie es mit Deiner Zeit jetzt stehen werde und wie Du ein Recht hättest mich unbescheiden zu nennen „ob meines unverschämten Geilens willen“ oder wie die schöne Wendung orginaliter lautet. Nein, ich gehöre nicht zu den gewaltthätigen Menschen, die immer Recht haben wollen und fast immer auch haben, selbst in der Freundschaft; sondern meine Unüberlegtheit ist die Schuld, Dir etwas anzumuthen, was wie ich mir hätte selbst sagen sollen Dir jetzt nicht möglich ist. Ich hätte nur so gern noch etwas vor Bayreuth über Bayreuth mit Dir geredet, da Du doch wohl nicht nur als Gersdorff sondern auch als Nietzsche hingehen wirst — vermuthlich wenigstens, wie die Anzeichen meines Schlechtbefindens errathen lassen. Wie mir’s geht, hat Dir mein letzter Brief erzählt; inzwischen haben wir die Diät sehr verändert (auf meine Bitte esse ich viel weniger — beiläufig eine der seltsamsten Möglichkeiten der Sprache — ich habe das viele Fleischessen satt.) Ein schönes Schwimmbad ist seit gestern meine Freude; es ist unmittelbar am Garten des Hôtels, ich benutze es allein, den andern Sterblichen ist’s zu kalt. Frühmorgens um 6 bin ich bereits darin, und kurz darauf laufe ich 2 Stunden spazieren, alles vor dem Frühstück. Gestern schweifte ich in den unglaublich schönen Forsten und verborgenen Thälern herum, gegen Abend, drei Stunden lang und spann im Gehen an allem Hoffnungsvollen der Zukunft herum, es war ein Blick des Glücks, den ich lange nicht erhascht hatte. Wozu ist man nun noch aufgespart? Ich habe einen schönen Korb voll Arbeit für die nächsten 7 Jahre vor mir, und eigentlich wird mir jedesmal wohl zu Muthe, wenn ich daran denke. Wir müssen unsre Jugend noch benützen und manches recht Gute noch lernen. Und allmählich wird’s doch ein gemeinschaftliches Leben und Lernen, immer wieder kommt einer zur Gemeine hinzu, wie diesen Sommer ein sehr fähiger und frühgereifter (weil frühleidender) Schüler, der stud. jur. Brenner in Basel. Auch wurde mir von einem jungen Manne erzählt, der nach Australien abging und sich vorher mit meinen Schriften versah. Von einem Briefe des Fürsten Rudi Liechtenstein (in Wien) habe ich Dir erzählt? Heute musste ich wieder einer Wiener Buchhandlung melden, dass eine Schrift von mir über Homer nicht veröffentlicht sei, sie fragte, wie nun schon mehrere, im Namen „eines treuen Anhängers“. Das weisst Du doch auch, dass ich nun ein zweites ausgearbeitetes und sehr inhaltreiches Manuscript über J. Burckhardt’s griechische Cultur habe, als Geschenk von dem kleinen guten Dr. jur Kelterborn (der auch schon ein Amt hat.)
Nun beginnt nach den Ferien meine Häuslichkeit und ein so vernünftig ausgedachtes Leben und Wirken, dass ich noch zu etwas kommen kann. Ich bin jetzt sehr hinterher, die argen Lücken unserer Erziehung (ich denke an Pforte und die Universitäten und andres) an mir selber nachträglich auszustopfen; und jeder Tag hat sein kleines Pensum, ganz abgesehn noch von dem Hauptpensum, welches mit dem Colleg im Zusammenhange steht. Wir müssen noch eine gute Strecke Wegs immer steigen, langsam, aber immer weiter, um einen recht freien Ausblick über unsre alte Cultur zu haben; und durch mehrere mühsame Wissenschaften muss man noch hindurch, vor allem durch die eigentlich strengen. Aber dieses ruhige Vorrücken ist unsre Art von Glück, und viel mehr will ich nicht.
Mit der Schriftstellerei ist es nun für längere Zeit vorüber, glaube ich. Aber mir scheint, zu einem rechten Weck- und Mahnruf reichen meine vier Schriftchen auch gerade aus, sie sind für Jünglinge und junges Streben. Hast Du Schuré’s le drame musical in 2 voll. gelesen? Er sandte es mir zu und hat mir viel Freude damit gemacht: Bd. I enthält als Bild das griech. Theater von Egesta, Bd. II das Innere des Bayreuthers. Und meine „Geburt“ hat er verstanden und mitempfunden, dass es eine Lust ist, so frei und von innen her. Für mein Gefühl ist alles Französische zu beredt und, bei Behandlung solcher Dinge wie die Musik, etwas zu lärmend und öffentlich. Aber das ist der Fehler der Sprache, nicht Schuré’s.
Liebster Freund, ich glaube jetzt wirklich, dass ich nicht nach Bayreuth kommen kann, die Zeit von 4 Wochen ist für eine solche Kur an sich schon zu kurz; sollte es durchaus nöthig sein, so würde ich sie auf 5 Wochen verlängern, nur um alles zu thun, was ich bei einer so ernsthaften Sache mir schuldig bin. Aber im Herbst, nicht wahr, da habe ich Dich wieder in Basel? Was wird sich da alles erzählen lassen! Und meines Studirzimmers sollst Du Dich freuen! Herzliche Glückwünsche auf Deinen Weg!
Ich folge Dir in treuer Liebe
als Dein Freund
Friedrich.
Bonndorf’s Lage: fasse Donaueschingen, die nächste Eisenbahnstation in’s Auge. Von da nach Löffingen 3 Stunden Post, von da bis Bonndorf 2 Stunden zu Fuss. Dabei ist das Steinabad. Diese Mittheilung als Correctur meiner Angaben im letzten Briefe, aber keinesfalls als Ermunterungen zum Kommen! Ja nicht missverstehen, theurer Freund.