1875, Briefe 412–495
450. An Franz Overbeck in Karlsbad
Basel 30 Mai 1875.
Ein Sonntagsbriefchen, lieber Freund; hoffentlich ist es Dir heute gut zu Muthe und das kräftige Gewässer rumort nicht im Inwendigen. Wir haben ein seltsam temperirtes Wetter, von fast idealer Schönheit (freilich nicht gerade für den Landmann) und ich habe gedacht, dieses ganze Muster- und Meisterstück von Frühjahr müsse Deine Genesung recht begünstigen. So etwas wie die paar Maientage in Baden-Baden habe ich eigentlich noch nicht erlebt und auf deutschem Boden fast für unmöglich gehalten. Jetzt trinke ich morgens um die gleiche Zeit wo Du trinkst, heißes Wasser, etwas später verdünnte Milch, nebst einem rohen Ei. Abends nichts als Suppe und etwas Thee; dazu Enthaltung von Sauerem Gepökeltem, Fettem: ich glaube, ich nähere mich Deiner jetzigen Art zu leben sehr an, und so halte ich’s denn wieder aus, mit der höchsten Behutsamkeit freilich. Meine Schwester macht’s mir sehr leicht zu leben. Denke, wir gehen damit um, uns eine Wohnung vom 1tn Oktober an zu miethen und eine eigne Wirthschaft zu begründen. Frau Baumann weiß noch nichts davon. Wir suchen schon nach Wohnungen; überhaupt aber merke ich, daß eine nach mir eingerichtete Häuslichkeit mir jetzt fast nothwendig geworden ist, wenn ich es noch eine rechte Zeit auf der Erde aushalten soll. Für den Sommer werde ich schwerlich nach Bayreuth oder nur für eine kurze Zeit kommen können, denn ich muß Bergluft und Trinkkur für meinen Magen anwenden, es hilft nichts. Heute Nachmittag wollen wir nach Lörrach zu der guten Frau Baumgartner fahren; sie denkt Deiner mit den herzlichsten Wünschen und wird Dir wohl auch schreiben. Adolf ist ohne Gefährde wieder nach Bonn zurückgekommen. Gestern waren wir bei Frl. Kestner und Frau Sarasin. Abendbesuche giebt es gar nicht mehr. Das Semester macht mir viel Arbeit. Ich habe am Pädagogium eine sehr gute Classe. Der kleine Kelterborn hat mir ein stattlich gebundenes Buch überreicht, von 448 engen Quartseiten; es ist die griechische Cultur Burckhardts; und zwar hat es Vorzüge vor Baumgartners Bearbeitung, es ist reicher an Stoff und geordneter und eine ausgezeichnete Ergänzung, während Baumgartner einen feineren Blick für Burckhardt selbst und großes imitatorisches Geschick hat. Dr. Fuchs hat ein opus I von sich geschickt, Clavierstücke über neugriechische Volkslieder, mit dem Titel Hellas. Von Frau Wagner habe ich ein höchst ausdrucksvolles Bronze-medaillon mit Wagners Kopf geschenkt bekommen.
Festersen fragt an, ob er die bestellten und längst angekommenen Bücher Dir nach Dresden oder nach Carlsbad zusenden solle. — Hörten wir doch etwas Gutes von Romundt! Im litterar. Centralblatt werden immer neue Lehrerstellungen ausgeboten, ich wundere mich, warum er nicht zugreift oder wenigstens zuzugreifen versucht. Aber es wird so sein wie mit St. Gallen.
Von Miaskowskis Sache weiß ich nichts mehr. Der Dr. Rau will einmal nach Basel kommen. Frau Immermann hat die Kurliste bekommen und dankt schönstens. Wir haben Immermanns in dieser Woche zu Gaste.
Deine Erfahrungen mit den Vollbürgern des Reichs sind mir sehr werthvoll, ich freue mich darauf mündlich Näheres zu hören. Gestern las ich von der Aufhebung des Berliner Preßbureaus durch Bismarck. Er wurde gar zu tölpelhaft bedient, scheint es.
Adieu, mein lieber Freund. Mit meinen und meiner Schwester Wünschen und Hoffnungen für Deine Gesundheit
Dein getreuer
Friedr. Nietzsche
Heute die neue Großrathswahl! — Das Referendum hatte in der Stimmrechtsfrage einen günstigen Verlauf. Heute auch Oltener Zusammenkunft.