1876, Briefe 496–584
581. An Cosima Wagner in Bayreuth
<Sorrent, 19. Dezember 1876>
Verehrteste Frau!
Ihr Geburtstag ist da und ich weiß kein Wort, mit dem ich denken könnte, Ihrer Empfindung dabei zu begegnen. Wünschen? Glück wünschen? — ich verstehe diese Worte kaum mehr, wenn ich an Sie denke; hat man erst gelernt, das Leben groß zu nehmen, so fällt der Unterschied von Glück und Unglück hinweg, und gar über das „Wünschen“ kommt man hinaus. Alles das, woran Ihr Leben jetzt hängt, hat kommen müssen, wie es kam, und namentlich das gegenwärtige ganze Nach-Bayreuth ist nicht anders vorzustellen als es ist, denn es entspricht dem ganzen Vor-Bayreuth; was vorher elend und trostlos war, ist es auch jetzt noch, und was groß war, ist es geblieben, ja ist es jetzt erst recht. Wir können solche Tage wie den Ihrigen nur feiern, nicht beglückwünschen. Von Jahr zu Jahr wird man stiller und zuletzt sagt man über Persönliches kein ernstes Wort mehr.
Der Abstand meiner jetzigen, durch Kranksein erzwungenen Lebensweise ist so groß, daß die letzten 8 Jahre mir fast aus dem Kopfe kommen und die früheren Lebenszeiten, an welche ich in der gleichartigen Mühsal dieser Jahre gar nicht gedacht hatte, sich mit Gewalt hinzudrängen. Fast alle Nächte verkehre ich im Traume mit längstvergessenen Menschen, ja vornehmlich mit Todten. Kindheit Knaben- und Schulzeit sind mir ganz gegenwärtig; mir ist bei Betrachtung früherer Ziele und des thatsächlich Erreichten aufgefallen, daß ich in allem, was ich thatsächlich erreicht habe, bei Weitem über die Hoffnungen und allgemeinen Wünsche der Jugend hinausgekommen bin; daß ich dagegen von allem, was ich mir absichtlich vorgenommen habe, durchschnittlich immer nur den dritten Theil zu erreichen vermochte. So wird es wahrscheinlich auch fernerhin bleiben. Wenn ich völlig gesund wäre — wer weiß, ob ich nicht meine Aufgaben mir in’s Abenteuerliche weit steckte? Inzwischen bin ich gezwungen, die Segel etwas einzuziehen. Für die nächsten Baseler Jahre habe ich mir die Vollendung einiger philologischer Arbeiten vorgenommen, und Freund Köselitz hat sich bereit erklärt, mir als Sekretär, vorlesend und nachschreibend, hülfreich zu sein (denn mit meinen Augen ist es so gut wie vorbei) Bin ich mit den Philologica wieder in Ordnung, so erwartet mich Schwereres: werden Sie sich wundern, wenn ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir fast plötzlich in’s Bewußtsein getretene Differenz mit Schopenhauer’s Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles Dogmatische daran hinweg sei; mir lag alles am Menschen. In der Zwischenzeit ist meine „Vernunft“ sehr thätig gewesen — damit ist denn das Leben wieder um einen Grad schwieriger, die Last größer geworden! Wie wird man’s nur am Ende aushalten?
Wissen Sie, daß mein Lehrer Ritschl gestorben ist? Ich bekam die Nachricht fast zugleich mit der Meldung vom Tode meiner Großmutter und meines nächsten Baseler philolog. Collegen Gerlach. Ich habe noch in diesem Jahre durch einen Brief Ritschl’s den rührenden Eindruck bestätigt erhalten, den ich aus seinem früheren Verkehre mit mir hatte: er war gegen mich herzlich vertrauensvoll und treu geblieben, ob er schon eine zeitweilige Schwierigkeit des Verkehrs, ja eine rücksichtsvolle Trennung als nothwendig begriff. Ihm verdanke ich die einzige wesentliche Wohlthat meines Lebens, meine Baseler Stellung als Professor der Philologie: ich verdanke sie seiner Freisinnigkeit, seiner Scharfsichtigkeit und Hülfbereitschaft für junge Menschen. In ihm starb der letzte grosse Philologe; er hinterläßt gegen 2000 Schüler, die sich nach ihm nennen, darunter etwa 30 Universitätsprofessoren.
Indem ich meinen Brief enden muß (ich darf nicht schreiben), fällt mir ein, daß Frau Marie Baumgartner die ergebne Bitte um Zurücksendung der französischen Schopenhauer-Übersetzung durch mich aussprechen läßt; ihre Adresse ist: Lörrach, Großherzogth. Baden.
In treuer Verehrung
Ihr
Friedrich Nietzsche
Sorrento
Villa Rubinacci.
Ich vergaß die Empfehlungen von Dr. Rée.