1876, Briefe 496–584
529. An Carl von Gersdorff in Hohenheim
Basel den 26 Mai 1876.
Für alle Deine Nachrichten, geliebter Freund, den besten Dank; sie haben mich bei gutem Befinden angetroffen, es scheint wirklich, dass die Unheimlichkeit des winterlichen Zustandes wie ein Gespenst vorübergegangen ist, es ist jetzt wieder heimlich bei mir.
Das Wort, mit seinem Doppelsinn, erinnert mich daran, dass ich etwas ausplaudern kann, das im übrigen noch Geheimniss ist (und einstweilen bleiben soll): dass ich vorhabe, von October an auf ein Jahr nach Italien zu gehen, einer Einladung der besten Freundin der Welt, Frl v. Meysenbug folgend. Noch habe ich nicht die definitive Erlaubniss der Behörden dazu, aber sie wird mir wahrscheinlich zu Theil werden, zumal ich aus freien Stücken (um ein so kleines Gemeinwesen nicht zu belasten) auf meinen ganzen Gehalt für diese Zeitdauer verzichtet habe. Freiheit! Du glaubst nicht, wie voll ich immer die Lungen nehme, wenn ich daran denke! Wir werden in grösster Einfachheit in Fano (am adriat. Meere) leben. Das ist meine Neuigkeit. — Alle meine Hoffnungen und Pläne zur endlichen geistigen Befreiung und zum unermüdlichen Weitergehen sind wieder in Blüthe; das Zutrauen zu mir selber, ich meine zu meinem besseren Selbst, erfüllt mich mit Muth. Selbst der Zustand meiner Augen ändert nichts daran (Schiess findet sie noch schlechter als damals, ich brauche einen Schreiber, das ist die Thatsache) Collegien sind sehr gut besucht, in einem c. 20, in dem andern c. 10 und ebenso im Seminar. — Geheirathet wird nicht, zuletzt hasse ich die Beschränkung und die Einflechtung in die ganze „civilisirte“ Ordnung der Dinge so sehr, dass schwerlich irgend ein Weib freisinnig genug ist, um mir zu folgen. — Immer mehr kommen mir die griechischen Philosophen, als Vorbilder der zu erreichenden Lebensweise, vor die Augen. Ich lese die Memorabilien des Xenophon mit tiefstem persönlichen Interesse. — Die Philologen finden sie tödtlich langweilig, Du siehst, wie wenig ich Philologe bin. —
Rohde’s „Roman“ ist da — sehr lesenswerth auch für Dich, übrigens ein Zeugniss der tollsten Art für die guten und seltnen Eigenschaften des Autors. Gestern schrieb mir Wagner einen längeren Brief, zum Stolz- und Glücklichmachen, so weit er mich betrifft.
Der arme arme Rau! — Wir sollen alle an den Unwerth des Lebens bei Zeiten glauben lernen, jeder bekommt seine Art von tödtlicher Wunde. Ich sinne, wie ich ihm eine kleine Freude machen kann, zum Zeichen meines grossen Mitleides.
Ich höre mit Bedauern, dass Overbeck gerade um die zweite Serie der Festspiele Dich gebeten hat. Das passte schwerlich in Deine Absichten hinein. Aber in irgend welchen Dingen ist man immer zuletzt unfrei und muss sich damit trösten, das Vernünftige gewollt zu haben. — Meine Schwester hat Dr. Fuchs für die dritte Serie eingeladen, schon vor lange; er wäre richtig, wie sich jetzt ergiebt, ohne diese Beihülfe, gar nicht hingekommen. —
Der neue Emerson ist etwas alt geworden, kommt es Dir nicht auch so vor? Die früheren Essays sind viel reicher, jetzt wiederholt er sich, und schliesslich ist er mir gar zu sehr in das Leben verliebt. —
Lebe wohl, behalte mich lieb,
ich bin Dein
alter Getreuer
F N.
nebst Overbecks und meiner Schwester herzlichen Grüssen.
Geht es an, so vergiss den trefflichen Musicum Köselitz nicht.