1876, Briefe 496–584
519. An Erwin Rohde in Jena
<Basel, 14. April> Charfreitag 1876.
Mein geliebter Freund, ich bin seit vorgestern wieder hier, habe 4 Wochen am Genfersee, bei dem Schlosse Chillon, gelebt und die letzte Woche in Genf bei befreundeten Menschen. Ich bin viel gesünder und recht innerlich befreiter, hoffnungsvoller, meinen Plänen und Zielen wiedergegeben — nach einer schweren fast unausstehlichen Zeit, wo ich an allem verzweifelte. In Genf habe ich einen wahren Freund hinzuerworben, eine Bereicherung für uns Alle, Du sollst ihn in Bayreuth kennen lernen — es ist der Generaldirektor des Genfer Orchesters Hugo von Senger. Das ist mein großer Ertrag dieser Reise. Ich muß mir schon selber treu bleiben, um Euch meinen wahren Freunden treu bleiben zu können, aber es fraß die Skepsis und das Mißtrauen an mir. Ebenso verpflichtet mich das heimliche Weiterleben meiner Schriften, immer von neuem höre ich, daß hier und dort ein Kreis von Menschen sitzt, die auf mich hören und die erwarten, daß man noch höher steigt, freier wird, um selber dabei freier zu werden. Kennst Du Longfellow’s Gedicht „Excelsior“? Und hast Du die jetzt eben erschienenen 3 Bände „Memoiren einer Idealistin“ gelesen? Ich bitte Dich sehr darum, es zu thun. Es ist das Leben unsrer herrlichen Freundin Frl v Meysenbug, ein Spiegel für jeden tüchtigen Menschen, in den man ebenso beschämt als ermuthigt blickt, ich las lange Zeit nichts, was mich so innerlich umdrehte und der Gesundheit näher brachte. Wir haben ja Verschiedenes diesen Winter zu tragen gehabt, aber was mir so wohlthat, wird auch Dir wohlthun, bei aller Verschiedenheit der Naturen und der Leiden. Overbeck hat es seiner Braut vorgelesen, nach jeder Sitzung, erzählte er, seien sie in neue Begeisterung und Ergriffenheit ausgebrochen. Es ist etwas von der höchsten caritas darin. —
Wie geht es Dir, Geliebter? Ich quälte mich öfters in dem Gedanken, Dich durch nichts erreichen, Dir in nichts jetzt etwas sein zu können. Es war nicht nur die Entfernung. Leben wir ein besseres Leben, darin wollen wir uns ewig nahe fühlen. Ich bin der Deine, glaub es mir heute.
F N.