1876, Briefe 496–584
552. An Louise Ott in Paris
Freitag. Basel. <22. September 1876>
Liebe gute Freundin,
erst konnte ich nicht schreiben, denn man machte mit mir eine Augenkur — und jetzt soll ich nicht schreiben, auf lange lange Zeit hinaus! Trotzdem — ich las Ihre zwei Briefe immer wieder, ich glaube fast, ich habe sie zu viel gelesen, aber diese neue Freundschaft ist wie neuer Wein, sehr angenehm, aber ein wenig gefährlich vielleicht.
Für mich jedenfalls. —
Aber auch für Sie, wenn ich denke an was für einen Freigeist Sie da gerathen sind! An einen Menschen, der nichts mehr wünscht als täglich irgend einen beruhigenden Glauben zu verlieren, der in dieser täglich grösseren Befreiung des Geistes sein Glück sucht und findet. Vielleicht dass ich sogar noch mehr Freigeist sein will als ich es sein kann!
Was sollen wir nun machen? Eine „Entführung aus dem Serail“ des Glaubens, ohne Mozartische Musik?
Kennen Sie die Lebensgeschichte Fräulein’s von Meysenbug, unter dem Titel „Memoiren einer Idealistin“?
Was macht der arme kleine Marcel mit seinen Zähnchen? Wir müssen alle leiden, bevor wir ordentlich beissen lernen, physisch und moralisch. — Beissen um uns zu nähren, versteht sich, nicht beissen, um zu beissen! —
Giebt es nicht von einem gewissen schönen blonden Weibchen ein gutes Bild? —
Ich reise Sonntag über 8 Tage fort nach Italien, auf lange Zeit. Von dort bekommen Sie Nachricht. Ein Brief an meine Adresse in Basel (Schützengraben 45) erreicht mich jedenfalls.
Von ganzem Herzen
brüderlich der
Ihre
Dr. Friedr. Nietzsche.