1876, Briefe 496–584
553. An Erwin Rohde in Jena
Freitag Basel, <22. September 1876>
Wie meine Augen immer dazwischen kommen, wenn ich recht herzlich mich gedrängt fühle, länger an Dich zu schreiben! Man macht jetzt eine Atropin-Kur mit diesen Augen, und Kopfschmerzen habe ich auszustehn gehabt seit meiner Rückkehr, dass all dies Leiden wirklich einer besseren Sache würdig wäre. So ist es: Du hast auf Deine Art, und ich auf diese und manche andre Art das Dasein abzubüssen.
Übrigens ist Dein gegenwärtiger Zustand zu beseitigen; so viel ich weiss, verstehn das die Frauen, sie haben den Instinkt dafür. Denn Dein Leiden ist nicht ganz selten, zumal bei einem Bräutigam. Nach allen schweren Passionen bleibt ein dunkles Bedürfniss zurück; mit der Geissel und den Flammenspitzen der Leidenschaft geschlagen und gequält zu sein muss doch irgend eine Lust höherer Art in sich haben. Da wirft man wohl hinterdrein ein sich darbietendes ruhigeres sonnigeres Glück weg an diesen Dämon der Erinnerung und thut sich von neuem sehr wehe damit: worauf es vielleicht ankommt — denn so wunderlich ist der Mensch.
Aber ich bitte und beschwöre Dich liebster Freund, zu warten und lange zu warten und recht den guten Willen zu haben, das Dir geschenkte Glück einer jungen liebenden Seele zu fühlen! — Hast Du diesen guten Willen nicht, so sollte man Dich eifersüchtig machen.
Man erzählt mir dass diese Familie Nachkommen des Grafen Ankerström sind: da wird es an einer im Grunde lebenden tiefen Leidenschaftlichkeit nicht fehlen, und Du darfst Dich in Acht nehmen.
Lebe wohl und glaube an meine innig besorgte Freundschaft, um diesen vielleicht absurden Brief zu entschuldigen. — Gersdorff wird von Nerina geliebt, es ist kein Zweifel, alles geht vorwärts.
Sonntag über 8 Tage reise ich von hier ab.
Lebwohl geliebter
Freund
Der allertrefflichste Rée geht mit nach Sorrento.