1876, Briefe 496–584
521. An Heinrich Romundt in Oldenburg
<Basel> Am Tag nach Charfreitag <15. April> 1876.
Endlich mein lieber Freund, sollst Du etwas von mir auf geradem Wege hören! Die Wellen giengen inzwischen über mein Haupt und der Winter nahm einen wahrhaft unheimlichen und schrecklichen Charakter für mich an. Nun bin ich aber vier Wochen am Genfersee, in der Nähe des Schlosses Chillon, bei Schnee Regen Sturm und Sonnenschein herumgelaufen und habe mich selbst dabei wieder gefunden. Das heißt nämlich das Vertrauen auf meine Ziele, das Verpflichtetsein auf meine Aufgaben und den Muth der Gesundheit. Schwimmen wir also weiter gegen den Strom; mitunter wird die Seele matt und da wirft wohl die Welle einen bei Seite und der ganze Körper kracht. Ich weiß nie, wo ich eigentlich mehr krank bin, wenn ich einmal krank bin, ob als Maschine oder als Maschinist.
Zuletzt war ich eine Woche in Genf, entdeckte dort einen wahren Freund in der schweren Bedeutung des Wortes (Hugo von Senger Generaldirektor des Genfer Orchesters) und machte bedeutende Erfahrungen. Ich fand zurückkehrend Dein Programm und ersah daraus den umfänglichen Charakter Deiner Thätigkeit und die angesehene Lehrerstellung, welche Du dort einnimmst. Dies ist Dein Chillon und Dein Genf, das sehe ich wohl ein, ich hoffe von Herzen, daß Du als höchsten Gewinn die Gesundheit der Seele davontragen mögest.
Ich verehre, sobald ich mir wiedergegeben bin, nur Eins stündlich und täglich, die moralische Befreiung und Insubordination und hasse alles Matt- und Skeptischwerden. Durch die tägliche Noth sich und andre höher heben, mit der Idee der Reinheit vor den Augen, immer als ein excelsior — so wünsche ich mein und meiner Freunde Leben.
In herzlicher Liebe der
Deine
F Nietzsche