1861, Briefe 202–291
288. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Pforta, Ende November 1861>
von deinem Bruder Liebe Liese.
Da ich dir lange schon einen Brief schuldig war, will ich dir jetzt einen recht feinen schreiben, wenn nicht meine globige Feder mich daran hindern sollte. Ich werde dich wahrscheinlich von weiter nichts als von — Weihnachten unterhalten können. Es ist ja auch jetzt unser Lieblingsgedanke und ist es alle Jahre um diese Zeit gewesen. Stelle dir nun recht gemüthlich einen meiner ersten Ferienabende vor, wie wir in warmer Stube, mit oder ohne Lampe dasitzen und uns gegenseitig unsre Wünsche vorzählen. Währenddem bereitet drüben Mamma und Tante Rosalie geheimnißvolle Werke und
— wir lauschen,
wenn sie heimlich Worte tauschen;
und ein ungewöhnlich Rauschen,
bald ein Flüstern, bald ein Knistern
macht uns nach den Wundern lüstern,
und das geisterhafte Weben,
Hin- und wieder ’nüber Schweben
macht uns beben
usw.
Ich hoffe, du wirst mit deinen Wünschen noch nicht so entschlossen sein, daß ich dir nicht wenigstens einige Vorschläge zur Güte machen könnte. Ich habe eine ziemliche Anzahl wünschenswerther Bücher und Musikalien aufgeschrieben und will dir so einiges mittheilen. Von letztern z. B. scheint mir sehr passend für dich ein Werk Schumanns, desselben, der die zerbrochne Fensterscheibe componirt hat. Und zwar sind es seine schönsten Lieder überhaupt; es ist „Frauenliebe und Leben“ Gedichte von Chamisso und muß so ungefähr 20 Srg. kosten. Der Text ist gleichfalls wunderschön. Von Büchern kann ich dir zuerst zwei theologische Werke anempfehlen, die dich und mich sehr interessieren werden. Ich habe sie selbst aus dem Munde Wenkels loben gehört, für dich sicherlich bedeutungsvoll. Beide sind von Hase, dem berühmten in Jena lebenden Professor, den ich selbst beinahe einmal gehört hätte, der nämlich der geistvollste Verfechter des idealen Rationalismus. „Das Leben Jesu“ (1,6) ist das eine und Kirchengeschichte (2 Th. 6) das andre. Beide oder vielmehr jedes einzeln ungefähr 1 <Th.>, 15 Srg. — Schreib an mich, wenn du die spezielle Addresse haben willst. Oder willst du dir vielleicht ein englisches Buch wünschen? Ich an deiner Stelle würde ganz entschieden Byron englisch lesen, der 1 Th. 25 Srg. kostet. Ich könnte dir noch verschiedne Bücher aufschreiben, nun will ich meine Wünsche sagen. In Hinsicht auf Musik also wünsche ich mir Paradies und die Peri v. Schumann für Klavier solo arrangirt. Das ist etwas entzückendes für jedermann, also auch für dich. Dann Shelley’s poetische Werke übersetzt v. Seybt. Das erste kostet etwa 2 Thaler, wenn es durch Gustav besorgt wird. Das letztere 1 Th. 10 Srg. Ich würde mich ganz ungemein freuen, wenn ich beides bekäme, denn es sind meine einzigen Wünsche. Da fällt mir übrigens etwas ein, daß ich dir doch erzählen muß. Ich war nämlich Sonntag Mittag zu Hr. Dr. Heinse zu Tisch eingeladen, wo sehr fein gegessen wurde und noch hübscher gesprochen. Dann ist Dr. Volkmann der neue Lehrer bereit, englische Privatstunden zu geben. Es haben sich eine Menge gemeldet, ich denke aber doch erst Ostern beizutreten. Augenblicklich studiere ich ja italienisch noch privatim. Lateinisch, Griechisch Hebraeisch, wo das erste Buch Mose gelesen, Deutsch, wo das Nibelungenlied in der Ursprache gelesen wird, Französisch, wo in der Klasse Karl XII gelesen, in einem Kränzchen mit dreien außer mir Athalie, Italiänisch wo im Kränzchen Dante gelesen wird. Wenn das nicht vorläufig genug ist, da weiß ich nicht, besonders da im Lateinischen zugleich Vergil, Livius, Cicero, Sallust gelesen, im Griechischen Uias, Lysias, Herodot gelesen wird. Nun leb wohl und freu dich über diesen bedenklich langen Brief.
Dein Fritz.
Sonntag auf Wiedersehn in Almrich