1887, Briefe 785–968
929. An Franziska Nietzsche in Naumburg
den 18. Oktober <1887> Venedig
Meine liebe Mutter,
Dein Brief, am Geburtstage eintreffend, fand mich bei einer Thätigkeit, an der Du Vergnügen gehabt hättest: ich schrieb gerade ein Briefchen an das südamerikanische Lama. Dein Brief und Deine Glückwünsche waren übrigens die einzigen, die bei mir anlangten: was mir einen guten Begriff von meiner inzwischen erreichten „Unabhängigkeit“ gegeben hat: letztere aber ist für einen Philosophen die Bedingung ersten Ranges. Hoffentlich hast Du an meinen letzten Mittheilungen die gute Laune nicht überhört, mit der ich Dir die Speisekarte deutscher Urtheile über mich vorlegte: diese kennen zu lernen hat mich wirklich erheitert, — auch bin ich Menschenkenner genug, um zu wissen, wie sich in 50 Jahren das Urtheil über mich herumgedreht haben wird, und in welcher Glorie von Ehrfurcht dann der Name Deines Sohnes strahlt, wegen derselben Dinge, derentwegen ich bis jetzt mißhandelt und beschimpft worden bin. Seit meiner Kindheit nie ein tiefes und verständnißvolles Wort gehört zu haben — das gehört eben zu meinem Loos, auch erinnere ich mich nicht, darüber geklagt zu haben. Übrigens bin ich „den Deutschen“ gar nicht gram deshalb; erstens fehlt ihnen gerade die ganze Bildung, der ganze Ernst für die Probleme, wo mein Ernst ist, und dann — sie sind wirklich sehr okkupirt und haben alle Hände voll zu thun, als daß sie Zeit hätten, sich mit etwas absolut Fremdem zu beschäftigen. Anbei, zu Deiner Beruhigung gesagt: Du scheinst zu glauben, daß der Widerspruch, den ich finde, etwas Wesentliches mit meiner Stellung zum Christenthum zu thun hat. Nein! So „harmlos“ ist Dein Sohn nicht, so „harmlos“ sind auch meine Herrn Gegner nicht. Die Urtheile, die ich Dir schrieb, stammen sammt und sonders aus der Sphäre der unkirchlichsten Parteien, die es jetzt giebt; das waren keine Theologen-Urtheile. Fast jede dieser Kritiken (die zum Theil von sehr intelligenten Kritikern und Gelehrten stammten) wehrte sich ausdrücklich gegen den Verdacht, als ob sie etwa mich durch den Hinweis auf die Gefährlichkeit meines Buchs „den Kanzelraben und den Altarkrähen ausliefern“ wollte. Der Gegensatz, in dem ich mich befinde, ist hundert Mal radikaler, als daß dabei die religiösen Fragen und Confessions-Schattirungen ernstlich in Betracht kämen.
Verzeihung für diese allzulange Zwischenrede: aber wenn ich sage, daß die intelligentesten Gelehrten sich in Bezug auf mich bisher vergriffen haben, so versteht es sich von selber, daß der alte Pinder nicht etwa feiner gewesen ist. Der empfand natürlich nichts weiter als daß seine und meine Ansichten verschiedene Ansichten sind, — und bedauerte dies. —
Die Nachrichten über Paraguay sind wirklich sehr erquicklich; doch fehlt bei mir immer noch auch der leiseste Wunsch, mich in die Nachbarschaft meines antisemitischen Herrn Schwagers zu setzen. Seine und meine Ansichten sind verschiedne Ansichten: — und ich bedaure dies nicht. —
Der Koffer zu meiner Abreise ist bereits zur Hälfte gepackt; übermorgen Abends oder Morgens geht es fort. Die Gesundheit hat sich im Ganzen gehalten, abgesehn, daß die Augen mir Noth machen. Meine Adresse von jetzt ab ist: Nice (France)
pension de Genève
pet. rue St. Etienne
Mit den herzlichsten und dankbarsten Grüßen
Dein altes Geschöpf.
Von Nizza aus will ich über den Transport des kleinen Carbon-Natron-Öfchens schreiben, den ich für mein dortiges Nordzimmer nöthig haben werde (mit einem Centner Material)