1887, Briefe 785–968
913. An Franz Overbeck in Basel
Sils-Maria den 17. Sept. 1887.
Lieber Freund,
vermuthlich bist Du schon in Basel, und vielleicht auch schon wieder in tiefer Arbeit: sie wird Dir eine Art Wohlthat sein, nach den überaus schmerzlichen und unabweislichen Eindrücken, die dieser Sommer für Dich mit sich brachte. Ich habe Deinen Bericht mit tiefem Antheile gelesen. —
Dies ist mein letzter Brief, den ich in Sils noch zu schreiben habe: denn ich stehe vor der Abreise. Die nächste Adresse ist, wie ich schon neulich in Aussicht stellte, Venezia, ferma in posta. Es wäre mir werthvoll, das Geld, etwa zur Hälfte, in italiänischem Papier (die andre in französischem) zu erhalten. Meine Absichten gehen dahin, etwa zwei Monate in Venedig zu bleiben (und die dortige Bibliothek auf meine Interessen hin einmal in Erwägung zu ziehn); dann aber wieder Nizza aufzusuchen. Die Frage „Klima, Helligkeit des Himmels, Trockenheit der Luft“ hat sich dies Jahr mir wieder in ihrer kardinalen Wichtigkeit ins Gedächtniß geschrieben. Ich darf* noch nicht mit Neuem experimentieren. (Später ist, aus Gründen meiner Studien, der Aufenthalt an einer großen Universität mir unumgänglich: wahrscheinlich Leipzig, wo bei weitem das meiste Entgegenkommen für mich ist: ich bin froh, unter uns gesagt, daß der Rüpel Rohde sich dort nicht festgesetzt hat… )
Meine Gesundheit ist seit meinem letzten Briefe wieder in entschiedenem Rückgange; der frühe Herbst (mit überwiegend schlechtem Wetter) hat mir arg zugesetzt.
Der Zufall mit der verloosten Obligation kommt mir insofern nicht unbequem, als ich in Kürze (etwa in 1 1/2 Monat) eine größere Summe Geld brauche, um meinen letzten Druck zu bezahlen. Mit dieser Schrift (drei Abhandlungen enthaltend) ist übrigens meine vorbereitende Thätigkeit zum Abschluß gelangt: im Grunde gerade so, wie es im Programm meines Lebens lag, zur rechten Zeit noch, trotz der entsetzlichsten Hemmnisse und Gegen-Winde: aber dem Tapferen wird Alles zum Vortheil. (Der einzige bisherige Leser der genannten Schrift „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“, mein alter ständiger Correktor Köselitz hat, wie der beiliegende Brief verräth, viel Vergnügen an ihr)
Professor Deussen hat mich hier besucht, mit seiner kleinen Frau; rührende Anhänglichkeit an mich. Er reist nach Griechenland; der Umweg über Sils war sehr liebenswürdig. Übrigens der erste Philosophie-Professor Schopenhauerschen Bekenntnisses: und, daß er zu dieser Denkweise gelangt ist, daran soll ich und niemand sonst schuld sein. Va benissimo! Ich lege mehr Werth darauf, daß D<eussen> der erste europäische Gelehrte ist, der die indische Philosophie von Innen her, auf Grund Kantisch-Schopenhauerscher Vorbereitung, versteht (— er „glaubt“ an sie: dazu war in der That Schop<enhauer> die nothwendige Zwischenstufe) Er brachte mir das raffinirteste Werk jener Philosophie, die Sûtras des Vedânta, von ihm übersetzt und auf Kosten der Akademie gedruckt. —
Weißt Du etwas Persönliches von Herrn Carl Spitteler, der jetzt in Basel lebt (Gartenstr. 74: er schrieb an mich)? Unzweifelhaft ein eminent feiner und interessanter Kopf; wie steht er sonst? Er scheint verbittert; trinkt er? — Ich suche für seine ästhetischen Abhandlungen einen Verleger (…für mich selber einen Verleger zu finden habe ich aufgegeben… ) Mich Dir und Deiner lieben Frau angelegentlichst empfehlend
Dein Freund
N.