1887, Briefe 785–968
855. An Elisabeth Förster in Asuncion
Chur, den 5. Juni 1887.
Weißt Du noch, mein liebes Lama, wie wir einstmals — es war im Herbst 1879 — in Chur zusammen auf dem Rosenhügel frühstückten? Du hattest einen Band Middlemarch von der braven Eliot bei Dir? Eben da wohnt jetzt Dein Bruder, bei einem Lehrer, wartend, wartend, ob das Wetter endlich die Auffahrt ins Engadin erlaubt: denn dies Jahr haben wir einen widerspänstigen und bösen Frühling, der den Mai ebenso mit Wintertagen durchspickt hat, wie der vorjährige Frühling (in Naumburg, schlimmen Angedenkens!) seinen Mai mit Hundstagen. Damals gieng es hinauf bis zu 30 Grad Cels. im Schatten, dies Mal hinunter bis 1 Grad unter Null: das ist das „europäische Gleichgewicht“! Das Üble daran ist, daß beide Natur-Anomalien mir gleichmäßig zusetzen, ja ich erinnere mich, wenige solche Depressions-Zeiten durchgemacht zu haben wie die letzten Frühlinge. Es steht überhaupt unheimlich mit mir: ich muß als Maximum meines überhaupt erreichten relativen Wohlbefindens jenen Sommer in Tautenburg betrachten, seit welchem Alles schief gegangen ist. Es kostet mich jetzt eine ernsthafte Überwindung, mit jedem einzelnen Tage fertig zu werden; dazu bin ich excessiv mißtrauisch geworden und habe eigentlich Niemanden übrig behalten, vor dem ich Lust hätte, mich etwas gehen zu lassen und guter Dinge zu sein. Wie sich von selber versteht, verhalten sich die „lieben Mitmenschen“ entsprechend zu mir: Alles hat mich seitdem verlassen, selbst das Lama ist davon gesprungen und unter die Antisemiten gegangen (was ungefähr das radikalste Mittel ist, um mit mir „fertig“ zu werden) Nun, ich sage das am wenigsten im Tone eines Vorwurfs, es ist bei weitem vernünftiger, in südamerikanischen Wäldern die „Försterei“ im großen Maaßstabe zu treiben als die „Brüderlichkeit“ im kleinen. Bevor ich hierher kam, habe ich mich ein paar peinliche Wochen in Zürich durchgewunden, zum ersten Mal wieder in der Pension Neptun seit jenen Herbsttagen, wo wir so heiter waren, gleichsam als ob —: ich wohnte in jenem kleinen Kämmerchen, das Du die erste Nacht inne hattest und dachte Viel an Dich (ebenso wie vorher bei der Reise über den Gotthard) Ich suchte Hegars auf, die sich Dir herzlich empfehlen lassen, auch Fräulein von Salis, eben vor der „Prüfung“, nämlich der Doctorpromotion stehend und sehr angegriffen; insgleichen Frl. v. Schirnhofer, die eben von Paris zurückkam und auch von dem Gespenst des nahen Examens überschauert war; übrigens war mit demselben Zuge auch Frl. Wildenow von Paris gekommen, doch ohne daß die beiden ehemaligen Freundinnen das gleiche Coupé benutzt hätten (sie erzählten vielmehr beiderseits mit einigem Stolze, sich nicht einmal auf dem Perron gegrüßt zu haben) Die Medizinerin schien mir übrigens vollendet langweilig und von Flöten-gegangener Weiblichkeit: sie sprach klug wie ein dummes Buch. Ich erwähne noch, daß Frl. Salomé sich jetzt verheirathet, mit einem Dr. Andreas; ebenfalls daß Malvida ihre ältere Schwester verloren hat und nunmehr glaubt „an der Reihe“ zu sein; auch daß in Basel die uns bekannten Menschen rapid aussterben (Thurneysen-Merian, der Prof. Vischer, Frau Prof. Hagenbach-Bischoff, der lustige Dr. Burckhardt), daß Jakob Burckhardt seine Geschichtsprofessur aus Altersschwäche niedergelegt hat und unglücklich über seinen insipiden Nachfolger ist; auch daß Overbeck zu mir nach Zürich gekommen ist (sein Haar ist nun auch weiß geworden) daß die Familie Rothpletz auf Teneriffa war, daß Prof. Moriz Wagner (der Freund von Frau Rothpletz) sich eben in München erschossen hat; auch daß ich mich mit Rohden verzürnt habe; daß ich in Nizza gründlich angepumpt worden bin und natürlich nichts wieder bekommen habe; daß bei der Leipziger Ostermesse mein letzterschienenes Buch einen schlechten krebsartigen Charakter an den Tag gelegt hat (es sind im Ganzen 114 Exemplare verkauft worden); endlich daß die verschiednen Druckereien, die ich mir in den letzten Jahren habe „zu Schulden kommen“ lassen, die Summe von 450 Thalern verschluckt haben. (Mein liebes Lama, Du findest Deinen Bruder jetzt ganz und gar abgeneigt, Geld heraus zu rücken: seine Lage ist zu unsicher, und die Eure nicht bewiesen genug als daß es erlaubt wäre, hier bloß auf den Augenblick hin zu handeln. Dagegen habe ich, einer Vorstellung unsrer guten Mutter nachgebend, so viel wenigstens mir abgerungen (denn ich bin ein Geizhals und überdies mißtrauisch, wie gesagt, bis zum Exceß), daß 800 Thaler für Dich flügge worden sind, insofern ich das, was Du bisher noch auf dem Haus in Naumburg stehen hattest, auf meine Kappe genommen habe, hoffentlich mit Deiner Billigung? Im Übrigen muß ich mich zu einer plötzlichen Veränderung meines Looses bereit halten: denn meine Schriften sind compromittirend und ich habe keinen Hinterhalt mehr, auch in Basel nicht. Verzeihung, daß ich so viel von mir rede und nichts Erquickliches noch dazu! Um so besser mag es Dir gehen, mein liebes Geburtstagslama!
F.
Meine besten Wünsche Deinem Dr. Förster zu seiner großen Unternehmung! Mir fiel, als ich die Karte mit dem äußerst respektablen Besitzthum anstaunte, der Satz ein „wer besitzt, ist auch besessen“. Man giebt damit viel Freiheit auf. —
Freund Köselitz sitzt enttäuscht und melancholisch wieder in Venedig, auch ohne Geld: denn alle Aussichten, seinen „Löwen von Venedig“ zum Brüllen zu bringen, sind vorbei. Die Deutschen schwärmen nur noch für Wagner und Neßler.
Es scheint ein Brief an Dich verloren gegangen zu sein, ein sehr heiterer Brief aus Nizza abgeschickt, etwa einen Monat vor dem Erdbeben (die Etage, in der mein Zarath<ustra> entstanden ist, stürzte ein und ist jetzt abgetragen worden)