1887, Briefe 785–968
895. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Freitag Nachmittag. <Sils-Maria, 19. August 1887>
Meine liebe Mutter,
ich schreibe auf der Stelle: Du hast mich herrlich beschenkt, und es giebt viele Gründe, weshalb ich gerade in diesem Augenblick besonders Dir dafür Dank zu sagen habe. Es stand in der letzten Zeit nicht mehr gut mit mir; vielleicht war ich ein wenig überarbeitet; jedenfalls setzte mir der Umschlag des Wetters sehr zu (vier Tage Gewitter, schwerer Regen; seitdem winterliche Luft, auf den nächsten Bergen neuer Schnee; heute morgen gieng ich mit Frl. von Salis in einem leichten Schneegestöber spazieren; in meinem Zimmer sitze ich morgens bei 2—5 Grad an der Arbeit) Die Schachtel enthielt lauter gute Dinge, einige davon ganz unerwartet zb. ein prachtvolles neues Werk des Dr. Deussen (hast Du seine Adresse?) über indische Philosophie (deren erste Autorität Deussen jetzt für Deutschland ist: der Zufall will daß ich selber gerade mit ihr stark beschäftigt bin, so daß das Buch à propos kommt, wie selten ein dedicirtes Buch) Den Sandtorten-Genuß muß ich mir noch etwas versagen; ich habe sie in eine Blechschachtel gethan. Den Cacao werde ich mit großem Interesse mit zwei Präparaten vergleichen, die ich selbst trinke (den holländischen van Houten und den schweizerischen Sprüngli): sehen wir zu, welche Nation den Preis davonträgt. Die Cravatten: meinem „tiefgefühlten“ Bedürfnisse entsprechend. Auch der Rhabarber sieht recht vertrauenerweckend aus: ich habe in diesem Punkte etwas Erfahrung (was bekanntlich, so wie das menschliche Leben nun einmal ist, fast immer so viel bedeutet wie „schlechte Erfahrung“ ..) Ich wäre neugierig zu wissen, was er kostet, da ich die französischen, italiänischen und schweizerischen Preise im Kopfe habe. Das Hemd: sehr gut! Denn ich trage diese Art fort und fort (Nachts nicht, aber am Tage) Auch scheint es mir, daß die Ärmel vernünftiger Weise kurz sind (und nicht wie bei denen, die ich jetzt trage) Endlich die Strümpfe und die Handschuh: meine liebe Mutter, welche Menge guter Dinge! Ich vergesse, wie überraschend mir die Brausepulver* vorkamen: wie als ob Du gewittert hast, was Dein altes Geschöpf sich oft diesen Sommer gewünscht hat.
Sonst giebt es wenig Neues zu melden. Frl. von Salis läßt sich Dir schönstens empfehlen; sie kommt mir immer noch sehr caput vor. Gestern besuchten mich meine Engländerinen im Wagen, ich fuhr noch ein halbes Stündchen mit ihnen, als sie zurück mußten. Im Hôtel Maloja, wo sie immer noch weilen, ist die Saison dies Mal sehr gut (c. 300 Person); der neuliche Maskenball hat der Miss Fynn einen großen Erfolg gemacht (die Zeitungen berichten selbst davon); man will mir sie bei meinem nächsten Besuche in den 2 Kostümen präsentiren, welche sie damals gehabt hat: erst als russische Hofdame, dann als russische Bäuerin. Es sollen die schönsten Costüme des Balls gewesen sein. — Um einen Begriff von der Frequenz zu geben: Am 9ten August verkehrten in Maloja, bei dem Hôtel, c. 900 Wagen, davon c. 500 Kutschen und Equipagen. Sehr nizza-mäßig, dagegen hält unser Sils seinen idyllischen Charakter fest.
Nochmals mit dem allerschönsten Danke, meine liebe gute Mutter!
Dein altes Geschöpf.