1887, Briefe 785–968
872. An Hippolyte Taine in Genf
Sils-Maria, Oberengadin, den 4. Juli 1887.
Hochverehrter Herr!
es gäbe so viele Gründe für mich, Ihnen Dank zu sagen: für die nachsichtige Güte Ihres Briefes, in dem die Worte über Jakob Burckhardt mir besonders erquicklich zu Ohren klangen; für Ihre unvergleichlich starke und einfache Charakteristik Napoleon’s in der Revue, deren ich in diesem Mai beinahe zufällig habhaft wurde (ich war zuletzt nicht übel auf sie vorbereitet durch ein neuerdings erschienenes Buch Ms. Barbey d’Aurevilly’s, dessen Schlußkapitel — über neuere Napoleon-Litteratur — wie ein langer Schrei des Verlangens klang — wonach doch? Unzweifelhaft gerade nach einer solchen Erklärung und Auflösung jenes ungeheuren Problems von Unmensch und Uebermensch, wie Sie sie uns gegeben haben). Ich will auch das nicht vergessen, daß ich mich freute, Ihrem Namen in der Widmung des letzten Romans von Mr. Paul Bourget zu begegnen: obwohl ich das Buch nicht mag — es wird Mr. B<ourget> niemals möglich sein, ein wirkliches physiologisches Loch in der Brust eines Mitmenschen glaubwürdig zu machen (dergleichen ist für ihn bloß quelque chose arbitraire, wovon ihn sein delikater Geschmack hoffentlich fürderhin fernhalten wird. Aber es scheint, daß der Geist Dostoiewskys diesen Pariser Romanciers keine Ruhe läßt?) Und nun seien Sie so geduldig, verehrter Herr, und lassen Sie sich die Ueberreichung von zweien meiner Bücher gefallen, die eben in neuen Auflagen erschienen sind. Ich bin ein Einsiedler, Sie werden es wissen, und bekümmere mich nicht viel um Leser und um Gelesenwerden, doch hat es mir seit meinen zwanziger Jahren (ich bin jetzt 43) niemals an einzelnen ausgezeichneten und mir sehr zugethanen Lesern gefehlt (es waren immer alte Männer), darunter zum Beispiel Richard Wagner, der alte Hegelianer Bruno Bauer, mein verehrter College Jacob Burckhardt und jener Schweizer Dichter, den ich für den einzigen lebenden deutschen Dichter halte, Gottfried Keller. Ich hätte eine große Freude daran, wenn ich auch den von mir am meisten verehrten Franzosen unter meinen Lesern hätte.
Diese zwei Bücher sind mir lieb. Das erste, die Morgenröthe, habe ich in Genua geschrieben, in Zeiten schwersten und schmerzhaftesten Siechtums, von den Aerzten aufgegeben, Angesichts des Todes und inmitten einer unglaublichen Entbehrung und Vereinsamung: aber ich wollte es damals nicht anders und war trotzdem mit mir in Frieden und Gewißheit. Das andre, die fröhliche Wissenschaft, verdanke ich den ersten Sonnenblicken der wiederkehrenden Gesundheit: es entstand ein Jahr später (1882), ebenfalls in Genua, in ein paar sublimklaren und sonnigen Januarwochen. Die Probleme, mit denen sich beide Bücher beschäftigen, machen einsam. Darf ich Sie bitten, dieselben aus meinen Händen mit Wohlwollen in Empfang zu nehmen?
Ich bin und verbleibe mit dem Ausdruck meiner tiefen und persönlichen Hochschätzung
Ihr ergebenster
Friedrich Nietzsche.