1887, Briefe 785–968
849. An Erwin Rohde in Heidelberg
Chur, den 19. Mai 1887.
Nein, mein alter Freund Rohde, ich erlaube Niemanden über Ms. Taine so respektwidrig zu reden, wie Dein Brief es thut — und Dir am wenigsten, weil es wider allen Anstand geht, Jemanden so zu behandeln, von dem Du weißt, daß ich ihn hochhalte. Magst Du, wenn es Dir gefällt, von mir selber nach Herzenslust und Gewohnheit Unsinn reden — das liegt in der natura rerum, ich habe mich nie darüber beklagt, noch es je anders erwartet. Aber in Bezug auf einen Gelehrten wie Taine, der Deiner species verwandter ist, solltest Du Augen im Kopfe haben. Ihn „inhaltlos“ nennen ist ganz einfach eine rasende Dummheit, studentisch zu reden — es ist zufällig gerade der substantiellste Kopf im jetzigen Frankreich — und die Bemerkung dürfte am Platze sein, daß dort, wo Einer keinen „Inhalt“ sieht, deshalb doch recht wohl ein Inhalt sein könnte, nur eben kein Inhalt für ihn. In der schmerzlichen Geschichte der modernen Seele, die in vielem Betrachte sogar eine tragische Geschichte ist, nimmt Taine seinen Platz ein als ein wohlgerathener und ehrwürdiger Typus mehrerer der nobelsten Qualitäten dieser Seele, ihres rücksichtslosen Muthes, ihrer unbedingten Lauterkeit des intellektuellen Gewissens, ihres rührenden und bescheidenen Stoicismus inmitten tiefer Entbehrung und Vereinsamung. Mit solchen Eigenschaften verdient ein Denker Ehrfurcht: er gehört zu den wenigen, die ihre Zeit verewigen. Mich erquickt der Anblick eines solchen tapferen Pessimisten, der geduldig und unerbittlich seine Pflicht thut, ohne den großen Lärm und die Schauspielerei nöthig zu haben, ja der ehrlich von sich sagen kann: „satis sunt mihi pauci, satis est unus, satis est nullus“. Sein Leben wird dergestalt, ob er es will oder nicht, zu einer Mission, er steht eben zu allen seinen Problemen nothwendig (und nicht so beliebig, so zufällig, wie Du, gleich den meisten Philologen, zur Philologie)
Nichts für ungut! Aber ich glaube, wenn ich nur diese Eine Äußerung von Dir wüßte, ich würde Dich auf Grund des damit ausgedrückten Mangels an Instinkt und Takt verachten. Glücklicherweise bist Du mir anderweitig ein bewiesener Mensch.
— Aber Du solltest Burckhardt über Taine reden hören!
Dein Freund N.