1887, Briefe 785–968
819. An Theodor Fritsch in Leipzig
Nizza, den 23 März 1887
Geehrtester Herr,
Sie erweisen mir in Ihrem eben angelangten Briefe so viel Ehre, daß ich nicht umhin kann, Ihnen noch eine Stelle aus meiner Litteratur zu verrathen, die sich mit den Juden beschäftigt: sei es auch nur, um Ihnen ein doppeltes Recht zu geben, von meinen „schiefen Urtheilen“ zu reden. Lesen Sie, bitte, „Morgenröthe“ p. 194.
Die Juden sind mir, objektiv geredet, interessanter als die Deutschen: ihre Geschichte giebt viel grundsätzlichere Probleme auf. Sympathie und Antipathie bin ich gewohnt bei so ernsten Angelegenheiten aus dem Spiele zu lassen: wie dies zur Zucht und Moralität des wissenschaftlichen Geistes und — schließlich — selbst zu seinem Geschmack gehört.
Ich gestehe übrigens, daß ich mich dem jetzigen „deutschen Geiste“ zu fremd fühle, um seinen einzelnen Idiosynkrasien ohne viel Ungeduld zusehn zu können. Zu diesen rechne ich in Sonderheit den Antisemitismus. Der auf S. 6 Ihres geschätzten Blattes gerühmten „klassischen Litteratur“ dieser Bewegung verdanke ich sogar manche Erheiterung: oh wenn Sie wüßten, was ich im vorigen Frühling über die Bücher jenes ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopfs, der Paul de Lagarde heißt, gelacht habe! Es fehlt mir offenbar jener „höchste ethische Standpunkt“, von dem auf jener Seite die Rede ist.
Es bleibt nur übrig, Ihnen für die wohlwollende Voraussetzung zu danken, daß ich nicht „durch irgend eine gesellschaftliche Rücksichtnahme zu meinen schiefen Urtheilen verführt“ bin; und vielleicht dient es zu Ihrer Beruhigung, wenn ich zuletzt noch sage, daß ich unter meinen Freunden keinen Juden habe. Allerdings auch keine Antisemiten.
Giebt mein Leben irgend eine Wahrscheinlichkeit dafür ab, daß ich von irgend welchen Händen „die Schwingen verschneiden lasse“? —
Mit diesem Fragezeichen empfehle ich mich Ihrem ferneren Wohlwollen — und Nachdenken…
Ihr ergebenster
Professor Dr. Nietzsche
Ein Wunsch: geben Sie doch eine Liste deutscher Gelehrter, Künstler, Dichter, Schriftsteller, Schauspieler und Virtuosen von jüdischer Abkunft oder Herkunft heraus! (Es wäre ein werthvoller Beitrag zur Geschichte der deutschen Cultur (auch zu deren Kritik!)