1887, Briefe 785–968
878. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Montag <18. Juli 1887>
Lieber Freund,
eine sofortige Antwort auf Ihren Brief, der eben zur Thür hereinspaziert ist, bei großem Regenwetter, welches mit seinem sanften Dunkel mir gar nicht unerquicklich scheint. Vielleicht haben Sie es auch — und sind damit den Alpdruck ein wenig los, den der Sommer auf die Seele legt. Sie haben Recht, ich sollte recht erkenntlich für meine kühle Sommer-Residenz sein (dies Jahr habe ich selbst hier oben gelegentlich an Schwüle gelitten, — was müssen Sie Ärmster ausstehen!) Sonst glauben Sie mir, mit einem gesunden Leibe kommt man über Alles hinweg, und mit einem kranken ist Nichts gut, und die besten Geschenke des Himmels werden kalt und traurig bei Seite gelegt. Eine physiologische Hemmung, die mir, ohne jede Übertreibung, seit Jahresfrist nicht Einen guten Tag gegeben hat und sich in Form von Allerlei Kleinmuth, Verwundbarkeit, Mißtrauen, Arbeitsunfähigkeit wie eine schwere seelische Erkrankung ausnimmt, so bestimmt ich auch die Physis als die Schuldige weiß und anklage — das ist eine Misere, mit der ein guter Gott Ihr Leben, lieber Freund, verschont hat. Zuletzt will ich billig sein und eine wesentliche Veränderung seit 8 Tagen ungefähr zugestehn — doch ist mein Mißtrauen so tief und die ganz schlimmen Anfalls-Tage immer noch so häufig, daß es mich dünkt, es könne morgen wieder ganz beim Alten sein. —
Diese besseren Tage habe ich sofort vehement ausgenutzt und eine kleine Streitschrift abgefaßt, die das Problem meines letzten Buchs, wie mir scheint, recht vor die Augen bringt: — alle Welt hat sich beklagt, daß man „mich nicht verstehe“, und die verkauften ca. 100 Exemplare gaben mir’s recht handgreiflich zu verstehn, daß man mich nicht verstehe. Denken Sie, ich habe ca. 500 Thaler Druckkosten in den letzten 3 Jahren gehabt — kein Honorar, wie sich von selbst versteht — und dies in meinem 43ten Jahre, nachdem ich 15 Bücher herausgegeben habe! Mehr noch: nach genauer Revue aller überhaupt in Betracht kommenden Verleger und vielen äußerst peinlichen Verhandlungen ergiebt sich als strenges Faktum, daß kein deutscher Verleger mich will (selbst wenn ich kein Honorar beanspruche) — Vielleicht bringt es diese kleine Streitschrift zu Wege, daß man ein paar Exemplare meiner älteren Schriften kauft (aufrichtig, es thut mir immer weh, wenn ich an den armen Fritzsch denke, auf dem nun die ganze Last hockt). Mags also meinen Verlegern zu Gute kommen: ich für meine allereigenste Person weiß nur zu genau, daß es mir nicht zu Gute kommt, wenn man anfängt, mich zu verstehen…
Overbeck schrieb, daß er die Vorreden hintereinander wie „die spannendste Odyssee im Reich des Gedankens“ gelesen habe. — Marie Rothpletz verheirathet sich mit einem Major a. D. von der Marck (dessen Schwester mir von Nizza her als sehr gute Tischnachbarin im Gedächtniß ist)
Komisches Hin-und-Her, Briefe und Anfragen zwischen Weimar und den dortigen Goetheforschern und unsrer Familie. Man hat nämlich „entdeckt“, wer das „Muthgen“ (eines der Räthsel des Goetheschen Tagebuchs) ist: der Archivrath Burkart hat es sogar schon drucken lassen — nämlich meine Großmutter. Nun habe ich diesen Herren den Streich gespielt, etwas dagegen zu stellen: „es schiene mir unwahrscheinlich, daß ‚Muthgen‘ (Erdmuthe Krause) 1778 ,dem jungen Dichter befreundet gewesen sei“, weil —… Muthgen erst im December des genannten Jahres das Licht der Welt erblickt habe. Große Bestürzung. Nun vermuthet man, es müsse die Mutter von „Muthgen“ sein. Die Beziehungen zu „Goethens“ stehn übrigens außer allem Zweifel. Daß der Bruder Muthgens, der Prof. theol. Krause in Königsberg nach Weimar berufen wurde als Nachfolger Herders (als Generalsuperintendent des Landes) war Goethes Werk.
Lieber Freund, es wird nicht nur gedruckt, bei Naumann, es wird auch gestochen, bei Fritzsch: fühlen Sie den Stich?… Zum Mindesten werden Sie ihn bald sehn.
Aber seien Sie doch so engelhaft (wie die Dönhoff zu sagen pflegte) und schicken Sie, was zu schicken ist, an Bülow… alter Freund — bitte —
(curiosum anbei: Dr. Widmann vom „Bund“ hat mir geschrieben, enthusiastisch; auch von Brahms, mit dem er zusammen ist (letzterer „lebhaft interessirt von Jenseits“, jetzt im Begriff sich fröhl<iche> Wissenschaft zu Gemüthe zu führen. — Sollte ich in dieser Richtung Etwas für matrim<onio> segreto thun können??? Fragezeichen.
Treulich Ihr
N.