1887, Briefe 785–968
908. An Meta von Salis auf Marschlins
Sils-Maria, Mittwoch.<14. September 1887>
Verehrtestes Fräulein,
es scheint mir, daß Sie mit Marschlins den besseren Theil gewählt haben: denn Sils ist nichts mehr werth, seitdem Sie fort sind. Der September hat einen heimtückischen Charakter: kalt, schneeig, regnerisch, verdrossen — ich selbst bin jeden Augenblick krank. Stünde es anders, so hätten Sie längst Nachricht von mir, auch ein Wort herzlichsten Dankes: denn Sie haben mir wacker dabei geholfen, über einen schweren und im Grunde von conträren Winden heimgesuchten Arbeits-Sommer — „hinwegzugondeln“. — Daß Sie meine Bücher lesen, macht mir jetzt weniger Besorgniß: der kürzeste persönliche Verkehr wirkt als Correktur auf ein bloß buchmäßiges Kennenlernen fremder Meinungen und Werthe; — man sieht, hört und schließt hintendrein ruhiger (alles Gedruckte ist an sich noch zweideutig und macht Unruhe) — Eben ist ein erbärmlicher Aufsatz angelangt, von einem Spiritisten und Wagnerianer abgefaßt, des Titels: „Variationen über Themen von Friedrich Nietzsche“. Insgleichen kam eine Einladung des Dresdener Avenarius, meinen Namen mit zur Begründung eines neuen Kunstblattes herzugeben: natürlich Nein gesagt. — Malvida schweigt. — Den 20. Sept. will ich nach Venedig abreisen; der Herbst scheint kalt zu werden: das ist in Hinsicht auf die Lagunenstadt für mich eine Hoffnung. — Neulich, an einem gründlichen Regentage, entwickelte sich ein artiges, sehr principielles Gespräch, bei dem die Rollen hübsch vertheilt waren: der preußische Landrath, der Mediziner aus Gießen, der Jurist aus Heidelberg (Geh.Rath Gierke) und ich (comme philosophe). — Mein Druck ist beim letzten Drittel angelangt; das Buch wird heißen „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“. Damit ist nunmehr alles Wesentliche angedeutet, was zur vorläufigen Orientierung über mich dienen kann: von der Vorrede zur Geburt der Tragödie bis zur Vorrede des letzt genannten Buchs — das giebt eine Art „Entwicklungsgeschichte“. Nichts ist übrigens degoutanter, als sich selbst commentieren zu müssen; aber bei der vollkommnen Aussichtslosigkeit dafür, daß irgend jemand Anders mir dies Geschäft hätte abnehmen können, habe ich die Zähne zusammengebissen und gute Miene, hoffentlich auch „gutes Spiel“ gemacht. Die Arbeit eines ganzen Jahrs! (eingerechnet das fünfte Buch der gaya scienza, das ich besonders empfehle) — Mein verehrtes Fräulein, behalten Sie diesen Sommer in guter Erinnerung, — ich will es auch thun.
Mich Ihrer ausgezeichneten Freundin angelegentlich empfehlend bleibe ich Ihr
ergebenster Diener
Dr Friedrich Nietzsche.
NB. Aber man soll nicht sagen: „Marschlins bei Igis“, sondern „Igis bei Marschlins“ — oder vielmehr, man soll gar nicht „Igis“ sagen… Ich vergaß, mich Ihrer verehrten Frau Mutter zu empfehlen.