1887, Briefe 785–968
834. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Cannobio, 19. April 1887> Villa Badia, Dienstag.
Wirklich, lieber Freund, meine Karte war ohne alle Hintergedanken, ein reiner Ausdruck der Dankbarkeit gegen Sie und Venedig (Vergebung, wenn das in mir durcheinander gewachsen ist: Frühling, Venedig und Ihre Musik weiß ich nicht mehr auseinander zu halten — wozu auch! ich habs zusammen erlebt!) Nun aber, nach Ihrer Karte, nach Ihrem verführerischen Bilde, mit dem auch größere Asketen zu verlocken wären als ich bin, nun kommen die Hintergedanken: oder vielmehr, ich bin bereits entschlossen, am 1. Mai meine Frühlings-Pilgerschaft zu Ihrer Stadt anzutreten. Vielleicht aber reden Sie es mir noch aus? Vielleicht ist die Stadt überfüllt? Wohnung nur zu extremen Preisen zu haben? (Beiläufig, hat die alte Östreicherin am Canale grande vermiethet?) Dann aber — es ist kein Zweifel, daß mir jetzt eine Erholung, eine Abziehung von mir im höchsten Grade noth thut: ich hatte an eine Kaltwasserkur in der Schweiz gedacht, fürchte mich aber vor den Schweizern noch mehr als vor der Einsamkeit. Ich würde Viel darum geben, mit Ihnen einige aesthetika zu reden, Principielles, wozu mich Ihre eigne Musik immer wieder treibt. („Wir“ entbehren eigentlich aller musikalischen Aesthetik und wissen unsre Werthe, wie wir sie stark genug empfinden, nicht recht mehr zu begründen: bei mir ein wahrer Nothstand!) Die ganze Stellung der Kunst ist mir zum Problem geworden: und, psychologisch geredet, was gieng eigentlich in Ihnen vor, als Sie den Muth zu Ihrem jetzigen Geschmack gewannen? und was in mir, als ich mich Wagnern entfremdete (und vor W<agner> schon der Schumann’schen Musik) Ich will dahinter kommen, warum Ihre „Löwenmusik“ mir in dem Maaße erquicklich, heilkräftig, innig, heiter, verklärt erscheint, wie — nun zum Beispiel wie Goethe’s Löwennovelle (Sie kennen sie doch? es ist der frühste und stärkste Eindruck, den ich von Goethe habe) oder wie Stifters Nachsommer. In dieser Richtung liegt noch eine ganze Welt der Schönheit: und es gäbe kaum ein größeres Leidwesen für mich als zu denken, daß die traurigen Cruditäten der letzten Jahre Sie, lieber Freund, von dieser einmal entdeckten Welt abspänstig machen sollten. Ich segne Venedig, das alte und das neue, weil es nun einmal Ihre Muschel ist: und ich ehre Ihre Conchylien-Abgeschlossenheit zu hoch in meiner Seele, als daß mir nicht immer einiges Mißtrauen kommt, wenn ich eine Reise nach Venedig ins Auge fasse.
Ihren Aufsatz habe ich mit ungeheurem Vergnügen gelesen: er ist, wenn mir dies zu sagen erlaubt ist, in einem Stile geschrieben, der Nietzschischer gar nicht gedacht werden kann. Es giebt so viel Geheimnisse des Rhythmus, der Satz-Cadenzen, von denen meine Leser nichts wissen, meinen Leser ausgenommen!
Eben sendet Fritzsch den vorletzten Bogen des 5. Buchs. Wollen wir das Fertigwerden der fröhl<ichen> Wissenschaft, im Grunde das Fertigwerden meiner ganzen bisherigen „Litteratur“ zusammen feiern? Ich fühle, daß es jetzt einen Abschnitt in meinem Leben giebt — und daß ich nun die ganze große Aufgabe vor mir habe! Vor mir und, noch mehr, auf mir!
Im Übrigen würde ich in Venedig still und abseits, wie ein Englein leben, kein Fleisch essen, und alles vermeiden, was die Seele düster und gespannt macht. Kürzlich noch schrieb ich an Overbeck, daß ich nur einen einzigen Ort auf der Erde liebe, nämlich Venedig.
Bitte, alter Freund, sagen Sie, soll ich kommen? ......
Ihr Nietzsche.