1887, Briefe 785–968
907. An Josef Viktor Widmann in Bern
Sils-Maria Ober-Engadin den 11. September 1887.
Hochgeehrter Herr Doctor,
machen Sie, bitte, Ihrem ausgezeichneten Mitarbeiter dem Herrn Prof. Spitteler mein ergebenstes Compliment: ich las eben seine Kritik des modernen Orchesters. Wie viel Wissen, Takt, Unabhängigkeit des Unheils! welcher esprit, welche gute Artisten-Laune! Und was seinen Geschmack in rebus musicis et musicantibus anbetrifft, so verhindert mich nur Eins ihn zu loben, — daß es gerade mein Geschmack ist. Mir kamen dabei ein Paar nachdenkliche Sachen von ihm in’s Gedächtniß, die ich vorigen Winter in Nizza gelesen habe (über Theater und Theatralisches): leider ohne Kopf und Ende, in ganz zufällig erwischten einzelnen Sonntags-Beilagen des „Bund“. Könnte man dergleichen Aesthetica des genannten Herrn nicht beisammen lesen? Es gäbe ein Buch seltenen Ranges ab, gemacht für einige Feinschmecker und Abseitige, an denen es gerade heute nicht fehlt. Pulchrum est paucorum hominum. —
Gestern, von einem Dresdener Herrn Avenarius höflichst zu einem neu zu begründenden Kunstblatte eingeladen, habe ich mir die Freiheit genommen, an meiner Stelle Herrn Spitteler in Vorschlag zu bringen. —
Mit angelegentlichem Gruße
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche
Nota bene, ich habe mich noch gar nicht für die liebenswürdige Gesinnung Ihres Briefes bedankt! Gesetzt, daß Sie irgend einen Werth darauf legen sollten, die Geburt der Tragoedie in der zweiten Auflage zu besitzen (sie enthält ein Curiosum, den Versuch einer Kritik dieser Schrift, von mir selbst), so genügen zwei Worte an den Verleger Herrn E. W. Fritzsch, Leipzig, Königstraße 6 (derselbe ist über Ihre Antheilnahme an meinen Büchern unterrichtet; ich nehme an, daß die „fröhliche Wissenschaft“ glücklich in Ihre Hände gelangt ist?)
Zuletzt: würden Sie vielleicht gewillt sein, Herrn Johannes Brahms Etwas in meinem Namen zu überreichen, gesetzt, daß er noch in Ihrer Nähe ist? (nämlich eine Composition von mir, die jetzt eben erscheint: „Hymnus an das Leben“, Chor und Orchester)… Ich bin nämlich, wie Wagner sagte, eigentlich „ein verunglückter Musikus“ (er selbst sei ein „verunglückter Philologe“ —).