1887, Briefe 785–968
814. An Heinrich Köselitz in Venedig
Montag. <Nizza, 7. März 1887>
Lieber Freund,
soeben empfieng ich, dankbar Ihrer Hülfe eingedenk, die Correktur der „Lieder“ — das ist die letzte Correktur, es freut mich dies Ihnen melden zu können. Mit dem „fünften Buche“, dessen Manuscript seit mehreren Monaten in Fritzschens Händen ist und dessen Drucklegung ich selber zu bezahlen gewillt war, scheint besagter Leipziger wenig einverstanden. Genug, wir lassen es vor der Hand ungedruckt; vielleicht gehört es seinem Tone und Inhalte nach überdies mehr zu Jenseits von G<ut> und B<öse> und dürfte diesem Werke bei einer zweiten Auflage einverleibt werden —, mit mehr Recht, wie mir jetzt scheint als jener fröhl<ichen> Wissenschaft: so daß zuletzt hinter dem Widerstreben des Verlegers ein „höherer Sinn“, ein Stück blauen Himmels von Vernünftigkeit sichtbar wird. Und welcher Verleger dürfte nicht etwas furchtsam sein, nachdem er sich ungeschickter Weise mit meiner Litteratur beschwert hat? Ich habe es noch nicht einmal zu Widersachern gebracht; seit 15 Jahren ist überhaupt über keines meiner Bücher eine tief gemeinte, gründliche, sach- und fachgemäße Recension erschienen — kurz, man muß dem Fritzsch Einiges zu Gute halten. —
In welcher Lage wäre ich, gesetzt, daß die zehn Jahre Philologie und Basel in meinem Leben fehlten! —
Eben ist ein Philologe mit verwandter Vorgeschichte hier bei mir zum Besuche, ein Dr. Adams, aus der Schule Rohde’s und v. Gutschmidts erwachsen und von seinen Lehrern sehr gewürdigt, aber — leidenschaftlich degoutirt und gegen alle Philologie eingenommen. Er flüchtet zu mir, „seinem Meister“ — denn er will sich schlechterdings der Philosophie weihen; und nun überrede ich ihn langsam, langsam, keine Dummheiten zu machen und sich durch keine falschen Vorbilder fortreißen zu lassen. Ich glaube, es gelingt mir, ihn zu „enttäuschen“. — Dabei erfuhr ich, wie selbst im Tübinger Stift meine Schriften heimlich und gierig verschluckt werden; ich gelte dort als einer der „negativsten Geister“. — Dr. Adams ist halb Amerikaner, halb Schwabe. —
Mit Dostoiewsky ist es mir gegangen wie früher mit Stendhal: die zufälligste Berührung, ein Buch, das man in einem Buchladen aufschlägt, Unbekanntschaft bis auf den Namen — und der plötzlich redende Instinkt, hier einem Verwandten begegnet zu sein.
Bis jetzt weiß ich noch wenig über seine Stellung, seinen Ruf, seine Geschichte: er ist 1881 gestorben. In seiner Jugend war er schlimm daran: Krankheit, Armut, bei vornehmer Abkunft; mit 27 Jahren zum Tode verurtheilt, auf dem Schaffot noch begnadigt, dann 4 Jahre Sibirien, in Ketten, inmitten schwerer Verbrecher. Diese Zeit war entscheidend: er entdeckte die Kraft seiner psychologischen Intuition, mehr noch, sein Herz versüßte und vertiefte sich dabei — sein Erinnerungs-Buch an diese Zeit „la maison des morts“ ist eins der „menschlichsten“ Bücher, die es giebt. Was ich zuerst kennen lernte, eben in französischer Übersetzung erschienen, heißt l’esprit souterrain, zwei Novellen enthaltend: die erste eine Art unbekannter Musik, die zweite ein wahrer Geniestreich der Psychologie — ein schreckliches und grausames Stück Verhöhnung des γνῶθι σαυτόν, aber mit einer leichten Kühnheit und Wonne der überlegenen Kraft hingeworfen, daß ich vor Vergnügen dabei ganz berauscht war. Inzwischen habe ich noch, auf Overbeck’s Empfehlung hin, den ich in meinem letzten Briefe befragte, Humiliés et offensés gelesen (das Einzige, was O<verbeck> kannte), mit dem größten Respekt vor dem Künstler Dostoiewsky. Auch merke ich bereits, wie die jüngste Generation von Pariser Romandichtern von dem Einflusse und der Eifersucht auf D<ostojewsky> vollständig tyrannisirt wird (zb. Paul Bourget)
— Ich bleibe bis zum 3. April, hoffentlich ohne noch weitere Bekanntschaft mit dem Erdbeben zu machen: jener Dr. Falb nämlich warnt vor dem 9. März, wo er eine Recrudescenz der Erscheinungen für unsre Gegend erwartet, insgleichen vor dem 22. und 23. März. Bisher bin ich kaltblütig genug dabei geblieben und habe mitten unter tollgewordnen Tausenden mit dem Gefühl der Ironie und der kalten Neugierde gelebt. Aber man kann nicht für sich gut sagen: vielleicht bin ich in wenig Tagen unvernünftiger als irgend Jemand. Das Plötzliche, das imprévu hat seine Reize…
Wie geht es Ihnen? Nein, wie mich Ihr letzter Brief erquickt hat! Sie sind so tapfer!
Treulich Ihr Freund N.