1887, Briefe 785–968
902. An Emily Fynn in Menaggio
Sils-Maria, den 7. September 1887.
Hochverehrte Frau!
Zuletzt muß ich gar, zu meinem herzlichsten Bedauern, von Ihnen brieflich Abschied nehmen. Oh diese dumme Gesundheit! Ich dachte gestern bei Ihnen zu sein — eine unausstehliche Angegriffenheit zwang mich hier zu bleiben; auch heute steht es nicht besser. Vielleicht wollen die Tage, welche ich mit einem alten Freunde (dem Professor der Berliner Universität Dr. Deussen dem ersten Kenner der indischen Philosophie) zugebracht habe, eine nachträgliche Buße. Der Besuch war kurz (— er kam mit seiner kleinen, ganz kleinen Frau erst Freitag nachmittag an und hatte nur zwei Tage für mich Zeit) sehr angenehm, sehr angreifend, zumal das Wetter schwer und kalt auf uns lastete. Nun ist er wieder fort, will noch nach Genf, Genua, Rom, Neapel, Brindisi, Athen, Jonische Inseln, Constantinopel — Alles in Einem Zuge, da er Ende Oktober zum Beginn der Wintervorlesungen wieder in Berlin sein muß. Die Energie einer solchen Reise hat etwas Respektables; aber man brächte mich nicht mit vier Pferden dazu, es ihm nachzumachen. Im Frühling, während der kurzen Osterferien war er mit seiner Frau am nördlichsten Ende von Schweden, um das Jahresfest der Verlobung mit ihr an der Stelle zu feiern, wo diese Verlobung stattgefunden hat. So reist man heute durch die Welt: die Erde ist so klein geworden!…
Dies sage ich, um Sie zu überzeugen, daß Genf von Nizza und von Sils gar nicht so weit ist, und daß ich dies Mal in der Hoffnung Abschied nehme, in Genf Sie selbst hochverehrte Frau, ebenso wie Ihre ausgezeichnete Freundin, vielleicht schon im nächsten Frühling wieder begrüßen zu dürfen. Ich muß für den eigentlichen Winter wahrscheinlich nach Rom (um meine alte leidende Freundin M<alwida> von Meysenbug noch einmal zu sehen); im Grunde sollte eigentlich auch Ihre Fräulein Tochter ihr Schiff nach der ewigen Stadt lenken? Für diesen angenehmen Fall erlaube ich mir die Meysenbug’sche Adresse zu notieren: Via Polveriera 6, nächste Nähe des Colisees. Man findet bei ihr Frau Minghetti und andere gute römische und fremde Welt.
Mit den allerherzlichsten Wünschen für Ihrer aller Gesundheit und im Grunde Sie um die Heimreise beneidend — denn Sie haben doch ein Heim, während ich nichts als ein unstäter Vogel bin —
bleibe ich treulich
der alte
Höhlenbär von Sils.
(verdrießlich und brummend, daß er
heute nicht aus der Höhle kann).