1887, Briefe 785–968
885. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria, Oberengadin d. 3. August 1887.
Meine liebe Mutter,
es kam mir so vor, als ob alle Welt weit und breit schwiege; kein Brief-Schmetterling verfliegt sich mehr auf meine Höhe — offenbar ist es in der Tiefe sehr, sehr heiß. Schließlich fällt mir aber ein, daß ich auch eine lange Zeit still geschwiegen habe — und so soll denn gleich ein Briefchen davon flattern. Ich war sehr arbeitssam, den ganzen Monat Juli: es scheint, daß mit der Gesundheit auch meine geistigen Kräfte wieder zugenommen haben. Auch habe ich einige Verbesserungen in der Einrichtung meiner Lebensweise durchgeführt, die entschieden sehr günstig gewirkt haben. Das Eine ist, daß ich noch kein Mal die table d’hôte besucht habe, deren Kost manche unberechenbare Gefahren in sich hat: dazu ist der Saal heiß, überfüllt (c. 100 Personen, viel Kinder) lärmend, genug, nichts für Dein zartes Thier, das zuletzt auch ein wenig zu stolz ist, um sich ohne Gewissensbisse en masse mit abfüttern zu lassen. So esse ich denn allein, eine halbe Stunde vorher: Tag für Tag ein schönes rothes Beefsteak mit Spinat und eine große Omelette (mit Apfel-Marmelade darin.) Dafür zahle ich ebenso viel als für die table d’hôte. Abends nichts als einige Scheibchen Schinken, 2 Eidotter und 2 Semmeln. Das wesentlichste ist aber die Neuerung früh morgens. Ich vertrug eigentlich seit vielen Monaten den Thee nicht mehr, wenn ich aufstand, sondern war hinterdrein müde und nervös, mit den deutlichen Anzeichen verdorbnen Magens. Etwa alle vierzehn Tage höchstens gab es einen guten Morgen, wo ich arbeiten konnte. Jetzt habe ich mir etwas Neues erfunden, das sich 5 Wochen schon bewährt hat: um 5 Uhr nehme ich eine Tasse bittren Cacao (van Houten), die ich selbst aufgieße, dann lege ich mich wieder zu Bett, schlafe mitunter wieder ein, stehe aber Punkt sechs auf und trinke, wenn ich mich angezogen habe, noch eine große Tasse Thee. Dann geht es an die Arbeit — und es geht. Das ganze System ist viel beruhigter und mehr im Gleichgewicht; auch ist meine Laune besser. Ich habe im Monat Juli nur 3 große Anfälle meines Kopfleidens mit tagelangem Erbrechen gehabt: was gegen die Monate vorher ein wirklicher Fortschritt ist. Meine russisch-englische Gesellschaft ist dies Jahr nicht in Sils, sondern in dem prachtvollen Maloja-Hôtel, wo ich einen Tag mit ihnen zugebracht habe. Hier in Sils ist Frl. von Salis mit einer Freundin, ich mache so gut es gehn will, die Unterhaltung der beiden Damen. Dann ist Basel dies Jahr sehr stark in Sils vertreten (37 Personen), darunter viele alte Bekannte zb. Sally Vischer (Frau Allioth) mit 4 Kindern nunmehro. In München hat sich Frl. Maria Rothpletz die letzte Woche mit dem Bruder einer Dame verheirathet, die einen ganzen Winter meine Tischnachbarin in Nizza war: mit dem Hauptmann Von der Marck. Heute will ich noch mir Wiel’schen Schinken von der Hauptbezugsquelle bestellen. — Mit dem allerherzlichsten Wunsche, daß es Dir wohl ergehe, meine liebe Mutter! Hoffentlich giebt es keine schlechten Nachrichten, ich habe etwas fertig zu machen, wozu ich Sonnenschein in jedem Sinne brauche.
Dein altes Geschöpf.