1887, Briefe 785–968
831. An Franz Overbeck in Basel
Cannobio, Villa Badia 14. April 1887.
Lieber Freund,
seit dem 3. April bin ich hier am Lago maggiore, das Geld kam noch zur rechten Zeit in meine Hände, auch war es mir lieb, daß Du nicht Alles schicktest: denn auch heute weiß ich noch nicht genau, wo ich den Sommer verleben werde. Mein altes Sils-Maria muß, wie ich mir ungern eingestehe, ad acta gelegt werden, ebenso wie Nizza: es fehlt mir jetzt an beiden Orten jene erste und wesentlichste Bedingung, die Einsamkeit, die tiefe Ungestörtheit, Abseitigkeit, Fremdheit, ohne welche ich nicht zu meinen Problemen hinunter kann (denn, unter uns gesagt, ich bin in einem geradezu erschrecklichen Sinn ein Mensch der Tiefe; und ohne diese unterirdische Arbeit halte ich das Leben nicht mehr aus) Mein letzter Winter in Nizza ist zur Marter geworden, ebenso wie mein letzter Aufenthalt in Sils: weil mir jene stille Verborgenheit abhanden gekommen ist, welche eine Existenz-Bedingung für mich ist, auch der einzige Weg, es zur Gesundheit zu bringen. Es ist von Jahr zu Jahr wieder schlechter gegangen mit dieser Gesundheit; und sie ist ein zuverlässiger Maaßstab für mich, ob ich auf meinen Wegen bin — oder auf denen Anderer. Die Probleme, die auf mir liegen, denen ich nicht mehr ausweiche (was habe ich alle Ausweichungen büßen müssen! Z. B. meine Philologie) vor denen ich wörtlich bei Tag und Nacht keine Ruhe habe — sie nehmen für jede fehlerhafte Beziehung (zu Menschen, Orten, Büchern) eine grausame Vergeltung. Ich sage das Dir ins Ohr, denn wie dürfte ich voraussetzen, daß die absonderlichen Voraussetzungen meines Schaffens sich von selber verstünden? Es scheint mir, daß ich gegen Menschen zu mild, zu rücksichtsvoll bin, auch werde ich, wo ich nur gelebt habe, alsbald so sehr von Menschen in Anspruch genommen, daß ich mich zuletzt gegen sie nicht mehr zu vertheidigen weiß. Diese Überlegung hindert mich zb. es einmal mit München zu versuchen, wo eine Menge Wohlwollen für mich parat liegt, wo aber Niemand lebt, der Ehrfurcht vor den ersten und wesentlichsten Bedingungen meines Daseins hätte — oder gar Willens wäre, sie mir zu schaffen. Nichts agaçirt die Menschen so sehr als merken zu lassen, daß man sich mit einer Strenge behandelt, der sie sich selber nicht gewachsen fühlen. Es giebt für mich gar nichts Lähmenderes, Entmuthigenderes als hinein in das jetzige Deutschland zu reisen und mir die vielen gutartigen Personen näher anzusehn, welche sich mir „wohlgesinnt“ glauben. Einstweilen fehlt eben alles* Verständniß für mich; und, wenn mich ein Wahrscheinlichkeits-Schluß nicht trügt, so wird es vor 1901 nicht anders werden. Ich glaube, man hielte mich einfach für toll, wenn ich verlauten ließe, was ich von mir selber halte. Es gehört zu meiner „Humanität“, die allgemeine Unklarheit über mich bestehn zu lassen: ich würde meine achtbarsten Freunde gegen mich erbittern und Niemandem damit wohlthun.
Inzwischen habe ich ein tüchtiges Stück Arbeit abgethan, mit der Revision und Neu-Herausgabe meiner älteren Schriften. Gesetzt, es wäre bald mit mir zu Ende — und ich verschweige nicht ein immer tieferes Verlangen nach dem Tode — so bleibt Etwas von mir zurück, ein Stück Cultur, das einstweilen durch kein andres sich ersetzen läßt. (Diesen Winter habe ich mich reichlich in der europäischen Litteratur umgesehn, um jetzt sagen zu können, daß meine philosophische Stellung bei weitem die unabhängigste ist, so sehr ich mich auch als Erbe von mehreren Jahrtausenden fühle: das gegenwärtige Europa hat noch keine Ahnung davon, um welche furchtbaren Entscheidungen mein ganzes Wesen sich dreht, und an welches Rad von Problemen ich gebunden bin — und daß mit mir eine Katastrophe sich vorbereitet, deren Namen ich weiß, aber nicht aussprechen werde.)
Nimm an, lieber Freund, daß ich etwa bis Ende April noch hier bleibe. Wie erreiche ich von hier jenes Brestenberg, wo ich gerne eine Massage-Kur durchmachen möchte (Monat Mai)? Auch Mammern ist mir empfohlen.
Ich lege einen Brief meines Venediger Corrector’s bei, wir sind eifrig beim Druck der fröhl<ichen> Wissenschaft. Aus dem Briefe magst Du auch meine Entschuldigung entnehmen, wenn ich meine Einladung nach Zürich, zum Anhören des Mizka-Czardàs, hiermit zurückziehn muß.
Jedenfalls möchte ich Dich in diesem Frühjahr ein Mal sprechen.
Treulich Dein Freund
N.
Adresse: Cannobio (Lago maggiore) Villa Badia
In der Fremdenliste der Villa Badia von 1885 finde ich: Mademoiselle Maria Overbeck, de Dresde. Herzlichen Gruß an Deine liebe Frau und Dank für die guten Nachrichten aus Teneriffa. Die Reise hierher, sehr winterlich, unterbrochen (wie alle meine Reisen) durch einen heftigen Ausbruch meines Kopfleidens. In Laveno eine entsetzliche eiskalte Nacht mit beständigem Erbrechen. — Vorgestern und gestern Wiederholung des Krankheits-Anfalls. Heute Erleichterung.