1887, Briefe 785–968
796. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza, France rue des Ponchettes 29 au premier <30. Januar 1887>
So! meine liebe gute Mutter, da soll schnell ein Geburtstags-Briefchen an Dich flügge gemacht werden, daß es zur rechten Zeit bei Dir ist: was mir in diesem Winter, bei der allgemeinen Schnee-Noth in Europa, weniger berechenbar und sicher scheint als sonst. Es freut mich aber, daß Herr Kürbitz wenigstens sicher und berechenbar geblieben ist (— könnte ich dasselbe doch von meinem Leipziger Verleger Fritzsch sagen, der mich seit 4 Wochen in einer geradezu Besorgniß erregenden Weise in Stich läßt! Zuletzt wird es Nichts sein als die alte Sächsische Bummelei und Unpünktlichkeit) Hoffentlich macht das Wetter Dir ein freundliches Gesicht zu Deinem Geburtstage, wie es Alle thun werden, die Dir gratuliren; und hoffentlich kommt auch ein Brief aus Südamerika an, der Dich erfreut. Im Grunde sind wir jetzt Alle recht über die Erde weg verstreut; es ist wenig von gleichen Menschen und Interessen übrig geblieben. Die Idee, daß nahe Verwandte von mir sich in Südamerika mit Holzhandel bereichern wollen, ist so fremd für mich als ihnen meine „Ideen“ sein mögen (über welche sich der beiliegende Dr. Welti im Grunde zu artig und gutmüthig ausdrückt als daß ich seinem Urtheile großen Werth beizulegen vermöchte) Das Leben ist eine ungewisse und gefährliche Sache, jeden Augenblick kann Etwas passiren, das man nicht zu verdauen vermag. Um von mir nicht zu reden: so verdrießt mich jetzt die aussichtslose Lage des Herrn Köselitz aufs Äußerste. Er ist schon zu alt, als daß man ihm zu warten anrathen dürfte; in seinem Alter muß man als Künstler berühmt sein oder berüchtigt (wie es Wagner z. B. war) Das ist anders für Unsereinen, ich meine für uns Philosophen, denen jede Art Ruhm, Aufsehn, Neugierde eher lästig sein muß: denn wir dürsten nicht darnach, mit Jemanden „übereinzustimmen.“ Ein Musiker aber, dessen Musik Niemand mag, und der in seiner Ecke hocken bleibt, ist eine lächerliche Figur, gleich einer Tänzerin, mit der kein Mensch tanzen will, so schön sie sich auch geputzt hat. Daß Herr K<öselitz> ein braver Mensch ist, giebt leider in dieser Hinsicht nicht den geringsten Trost, eher umgekehrt; das Schlimmste ist, daß er sich nicht darauf versteht, andre Künstler für sich einzunehmen.
Das Wetter ist hier über alle Maaßen schön, hell, mild; auch haben wir bisher noch nicht ein Stäubchen Schnee gehabt. Was ich fürchte, das ist, es möchte der Frühling zu früh kommen (nachdem der Winter um einen Monat zu früh gekommen ist —); und die warme Jahreszeit ist allen Nervenleidenden die gefährliche Jahreszeit. —
— Und nun will ich einen Sonntags-spaziergang über die Berge machen und an meine gute Mutter dabei mit vielen herzlichen Wünschen denken. Was man doch allein ist! Dein altes
Geschöpf.