1880, Briefe 1–73
48. An Ida Overbeck in Dresden
<Marienbad, 18. August 1880>Mittwoch früh.
Vor einer Stunde, liebe Frau Professor erhielt ich die „Menschen des 18. Jahrhunderts“, ich blätterte darin und sah dies und jenes gute Wort und hinter jedem guten Wort so viel, viel mehr! Es entzückte mich, und zugleich ergriff mich das Gefühl einer tiefen unaussprechlichen Entbehrung. Ich glaube, ich habe geweint, und es müßte sonderbar zugehen, wenn dieses kleine gute Buch nicht manchem Anderen die Empfindung dergestalt erregte. —
Warum ich nicht schrieb? Weil ich seit 3 Wochen mit den Flügeln flattere, um von Marienbad fortzukommen — und weil drei Wochen beständigen Regenwetters mich festhielten, meiner Gesundheit nachtheilig waren und mich, durch den unaufhörlichen Wechsel von Erwartung und Enttäuschung fast um alle Entschlußfähigkeit brachten. Jetzt will ich geduldig noch bis Ende des Monats aushalten, und einen mittleren Grad von Wohlbefinden wieder zu erreichen suchen, den ich dem Walde, der Sonne, dem heitern Himmel und dem fatalen Trink-Wässerchen in den ersten Wochen meines hiesigen Aufenthaltes verdankte. Wäre es dabei geblieben, so würde ich meinen August in der Nähe Dresdens verbracht haben — so war mein Projekt, und ich schrieb nicht, um etwas Bestimmtes über die Zeit der Ankunft zu schreiben.
Aber immerhin! Es bleibt die schöne Hoffnung auf das Naumburger Wiedersehen! nicht wahr? — und die soll nicht zu Wasser werden! —
Heute feiert man hier den Geburtstag des Kaisers, aber ich kann mir inmitten der schwarzen und gelben Farben immer nur etwas Schreckliches, etwa den Geburtstag der Pest, denken. — Ich blickte noch einmal in Sainte Beuve. Er hat sehr feine Sachen gesehen: p. 19 redet er von der Ungezwungenheit des Ausdrucks (Font<enelle>’s) welche sich — wie eine heimliche List gegen die Großartigkeit der Dinge ausnimmt“ Das ist in der Art Pascal’s empfunden.
Meinem lieben Freunde und dem gesammten verehrten Kreise die ergebensten Grüße
Ihres dankbaren
sehr dankbaren
Friedrich Nietzsche.