1880, Briefe 1–73
28. An Ida Overbeck in Basel
<Venedig,> den 24 Mai 1880
Liebe verehrte Frau Professor, ich danke Ihnen auf das Allerherzlichste — aber einen kleinen Gewissensbiss habe ich doch gehabt: es schien mir, dass ich einen solchen Act Ihrer Güte hätte auf jede Weise verhindern müssen, und ich habe nichts gethan!
Der Aufsatz ist nicht so „aus der Sache“ gewachsen, wie andere des gleichen Verfassers, aber ich bin jedem dankbar, der Sache auch nur streift. Zu wissen, wie sich höhere Culturzeiten, als die unsere ist, mit den bittersten Schmerzen abgefunden haben — das ist doch sehr wichtig, und man dürfte wohl sehr viel mehr Kraft und Wissen hierfür aufwenden, als Ms. A<lbert> sich diesmal zu Gebote stellte. Auch soll man nicht alle solche Dinge allzuviel mit christlichen Dingen zusammenstellen, man bekommt sonst falsche Farben.
Die Einwände gegen Seneca’s Art zu trösten — wie wenn er gerade sie hätte hervorrufen wollen? Er mochte nicht das Wort aussprechen, auf welches es ihm ankam; er meinte, eine solche Trauer sei für eine Frau dieses Ranges (in jedem Sinne) nicht mehr anständig — was rieth er denn? Das, worüber er sein ganzes Leben meditirt hat, was der allzeit gegenwärtige Gedanke in seinen Schriften ist, auch wenn kein Wort davon dasteht — den Selbstmord. Nur bei diesem Worte verschwinden die Einwände; und jene vornehme Seele sollte es selber finden! Ms. A<lbert> hat statt dessen Lorbe<e>rn für das Christenthum pflücken wollen. — Vielleicht thue ich mit der Hypothese Beiden Unrecht. —
Meinem Freunde sagen Sie insbesondere für Alles Dank, was er mir neulich durch Hr. Köselitz sagen liess; es erquickt so, sich in der Ferne und doch in solcher Nähe der Empfindung mit einander zu wissen. Z. B. haben wir Beide kein Wort mehr nöthig — zur Verständigung über Juden und Judengenossen. Ich gestehe, alle Nachrichten aus Deutschland werden mir lästig und fremd, und meine Gesundheit zwingt mich fast, der Conservirung halber mich zu verlöthen, wie eine Büchse.
Leben Sie wohl!
Innig dankbar
und ergeben
F Nietzsche
Aus Venedig, der Stadt des Regen’s, der Winde und der dunkeln Gässchen.
Glauben Sie der George Sand nichts über Venedig (das Beste daran ist Stille und schönes Pflaster)