1880, Briefe 1–73
2. An Malwida von Meysenbug in Rom
Naumburg den 14 Jan 1880.
Obwohl Schreiben für mich zu den verbotensten Früchten gehört, so müssen Sie, die ich wie eine ältere Schwester liebe und verehre, doch noch einen Brief von mir haben — es wird doch wohl der letzte sein! Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu dürfen. Was Qual und Entsagung betrifft, so darf sich das Leben meiner letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgend einer Zeit messen; trotzdem habe ich diesen Jahren viel zur Läuterung und Glättung der Seele abgewonnen — und brauche weder Religion noch Kunst mehr dazu. (Sie merken, daß ich darauf stolz bin; in der That, die völlige Verlassenheit hat mich erst meine eignen Hülfsquellen entdecken lassen) Ich glaube mein Lebenswerk gethan zu haben, freilich wie einer, dem keine Zeit gelassen war. Aber ich weiß, daß ich einen Tropfen guten Oeles für Viele ausgegossen habe und daß ich Vielen zur Selbst-Erhebung, Friedfertigkeit und gerechtem Sinne einen Wink gegeben habe. Dies schreibe ich Ihnen nachträglich, es sollte eigentlich bei der Vollendung meiner „Menschlichkeit“ ausgesprochen werden. Kein Schmerz hat vermocht und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugniß über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen.
Zu wem dürfte ich dies Alles sagen, wenn nicht zu Ihnen? Ich glaube — aber es ist unbescheiden es zu sagen? — daß unser Charakter viele Ähnlichkeiten hat. Z. B.: wir sind Beide muthig, und weder Noth noch Geringschätzung kann uns von der Bahn, die wir als die rechte erkennen abdrängen. Auch haben wir Beide in uns und vor uns Manches erlebt, dessen Leuchten Wenige der Gegenwärtigen gesehen haben — wir hoffen für die Menschheit und bringen uns selber als bescheidenes Opfer, nicht wahr? — —
Hören sie Gutes von Wagner’s? Es sind drei Jahre, daß ich nichts von ihnen erfahre: die haben mich auch verlassen, und ich wußte es längst, daß W<agner> vom Augenblicke an, wo er die Kluft unserer Bestrebungen merken würde, auch nicht mehr zu mir halten werde. Man hat mir erzählt, daß er gegen mich schreibe. Möge er damit fortfahren: es muß die Wahrheit auf jede Art an’s Licht kommen! Ich denke in einer dauernden Dankbarkeit an ihn, denn ihm verdanke ich einige der kräftigsten Anregungen zur geistigen Selbstständigkeit. Frau W<agner>, Sie wissen es, ist die sympathischste Frau, der ich im Leben begegnet bin. — Aber zu allem Verkehren und gar zu einem Wiederanknüpfen bin ich ganz untauglich. Es ist zu spät.
Ihnen, meine liebe schwesterlich verehrte Freundin der Gruß eines jungen Alten, der dem Leben nicht gram ist, ob er gleich nach dem Ende verlangen muß.
Friedrich Nietzsche.