1879, Briefe 790–922
899. An Paul Rée in Stibbe
Naumburg a/Saale 31 Oct. 1879.
Lieber Freund, nur ein paar Zeilen der Ungeduld! Ich warte nämlich seit Wochen auf eine freie Stunde, um einmal länger an Sie zu schreiben — sie kommt nicht, und ich muß alles Erzwingen so hart büssen, daß ich nichts mehr erzwinge. Viele Wünsche habe ich aufgeben müssen, aber noch nie den, mit Ihnen zusammenzuleben — mein „Garten Epikurs“! Die Vernunft sagt auch jetzt immer noch, daß wir warten müssen; es wäre gar zu traurig, wenn „wir uns schlecht bekämen.“ Meine Mutter, heute nur von Herzen grüßend und das Beste wünschend, wird Ihnen bald des Genauern schreiben, ob, wann und wie unser Zusammensein möglich ist. Sie hat mir Lermontoff vorgelesen; ein mir sehr fremder Zustand, die westeuropäische Blasirtheit, ist allerliebst beschrieben, mit russischer Naivetät und halbwüchsiger Weltweltenweisheit — nicht wahr?
Ich danke Ihnen, lieber Freund für alles Gesagte Gesandte und Gewünschte, namentlich aber für die wundersame entzückende und wiederum erschreckende Meldung, daß Ihr Werk wächst, reift — unglaublich! — Ein paar Seiten Ihrer „Untersuchungen“, auf die ich neulich fiel, machten mir nach jenem Werke der Verheißung unbändigen Appetit. —
Mein Hauptgedanke ist jetzt, daß die Hauptursache der irdischen Gebrechlichkeit in kleinen Unwissenheiten besteht — Verzeihung, daß ich die Nutzanwendung auch auf unser Kranksein mache! Wir müssen durchaus gesund werden, sobald wir recht begriffen haben, wie wir krank wurden. Medizinische Gespräche sind nicht zu vermeiden, wenn wir uns wiedersehen.
Und mit dem unausgesprochenen Wunsche der Angst um Sie, lieber lieber Freund schließe ich
In herzlicher Liebe
Ihr
F Nietzsche