1879, Briefe 790–922
869. An Paul Rée in Nassau
<St. Moritz, Ende Juli 1879>
Mein geliebter Freund, Sie wissen wohl im Ganzen, wie es mit mir gestanden hat? Ein paar Mal den Pforten des Todes entwischt, aber fürchterlich gequält — so lebe ich von Tag zu Tage, jeder Tag hat seine Krankheits-Geschichte. Ich habe jetzt die beste und mächtigste Luft Europa’s zu athmen und liebe den Ort, an dem ich weile: St. Moritz in Graubünden. Seine Natur ist der meinigen verwandt, wir wundern uns nicht über einander, sondern sind vertraulich zusammen. Vielleicht thut’s gut so — immerhin, ich halte es ein wenig besser hier als anderswo aus.
Der September und der erste Theil des Oktober soll am schönsten hier sein — da steigen Wünsche nach dem sehr ersehnten Freunde auf, aber ich will nicht unbescheiden sein. Für unser Zusammensein — falls ich dieses Glück noch erleben sollte — ist Viel in mir präparirt. Auch ein Kistchen Bücher steht für jenen Augenblick bereit, Reealia betitelt, es sind gute Sachen darunter, über die Sie sich freuen werden.
Können Sie mir ein lehrreiches Buch womöglich englischer Herkunft, aber ins Deutsche übersetzt und mit gutem großen Druck zusenden? — Ich lebe ganz ohne Bücher, als Sieben-Achtel-Blinder, aber ich nehme gerne die verbotene Frucht aus Ihrer Hand.
Es lebe das Gewissen, weil es nun eine Historie haben wird, und mein Freund an ihm zum Historiker geworden ist. Glück und Heil auf Ihren Wegen!
Von Herzen Ihnen nahe
und das Allerförderlichste
Ihrer Gesundheit wünschend.
Sagen Sie mir ein Wort über Winterpläne.
Adr.: St. Moritz
Graubünden (Schweiz
poste restante
Friedrich Nietzsche, ehemals Professor
jetzt fugitivus errans.