1879, Briefe 790–922
889. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Naumburg, 5. Oktober 1879>
Gestern Vormittag lief meine Karte an Sie, lieber Freund, ab, und drei Stunden später hatte ich wieder neue Beweise Ihrer unermüdlichen Güte für mich in den Händen. Könnte ich nur nun auch Ihren Wünschen entsprechen! „Doch Gedanken stehn zu fern“, wie Tieck singt. Sie glauben nicht, wie getreu ich bis jetzt das Programm der Gedankenlosigkeit durchgeführt; und ich habe Gründe hier treu zu sein, denn „hinter dem Gedanken steht der Teufel“ eines wüthenden Schmerz-Anfalls. Das Manusc<ript>, welches Sie von St. M<oritz> aus bekamen, ist so theuer und schwer erkauft, daß vielleicht um diesen Preis niemand es geschrieben haben würde, der es hätte vermeiden können. Mir graut jetzt öfter beim Lesen, namentl<ich> der längeren Abschnitte, der häßlichen Erinnerung halber. Alles ist, wenige Zeilen ausgenommen, unterwegs erdacht und in 6 kleine Hefte mit Bleistift skizziert worden: das Umschreiben bekam mir fast jedesmal übel. Gegen 20 längere Gedankenketten, leider recht wesentliche, mußte ich schlüpfen lassen, weil ich nie Zeit genug fand, sie aus dem schrecklichsten Bleistiftgekritzel herauszuziehen: so wie es mir schon vorigen Sommer gegangen ist. Hinterher verliere ich den Zusammenhang der Gedanken aus dem Gedächtniß: ich habe eben die Minuten und Viertelstunden der „Energie des Gehirns“ von der Sie sprechen, zusammenzustehlen, einem leidenden Gehirne abzustehlen. Einstweilen scheint es mir als ob ich nie wieder es thun werde. Ich lese Ihre Abschrift, und es wird mir so schwer, mich selber zu verstehen — so müde ist mein Kopf.
Das Sorrentiner M<anu>sc<ript> hat der Teufel geholt; mein Umzug und endgültiges Verlassen Basel’s hat in manchen Dingen sehr gründlich aufgeräumt. — mir eine Wohlthat, denn solche alten M<anu>sc<ripte> sehen mich wie Schuldner an.
Lieber Freund, über Luther bin ich noch längere Zeit außer Stande, in ehrlicher Weise etwas Verehrendes zu sagen: die Nachwirkung einer mächtigen Materialsammlung über ihn, auf die mich J. Burckhardt aufmerksam machte. Ich meine Jans<s>en Gesch<ichte> des deutschen Volkes Bd. II. in diesem Jahre erst erschienen (ich besitze es) Hier redet einmal nicht die verfälschte protestant<ische> Geschichtsconstruktion, an welche wir zu glauben angelernt worden sind. Augenblicklich scheint es mir nichts mehr als Sache des nationalen Geschmacks in Norden und Süden, daß wir Luther als Menschen dem Ign<atius> Loyola vorziehen! Die gräßliche hochmüthige gallig-neidische Schimpfteufelei Luthers, dem gar nicht wohl wurde, wenn er nicht vor Wuth auf jemanden speien konnte, haben mich zu sehr angeekelt. Gewiß haben Sie Recht mit der „Förderung der europ<äischen> Demokratisirung durch L<uther>, aber gewiß war dieser rasende Bauern-Feind (der sie wie tolle Hunde todtschlagen hieß und eigens den Fürsten zurief, jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmelreich erwerben) einer der unfreiwilligsten Förderer derselben. — Übrigens sind Sie in der billigeren Stimmung gegen ihn. Geben Sie mir Zeit! — Für die anderen Hindeutungen auf Lücken meiner Gedankenreihen sage ich Ihnen ebenso Dank, nur einen ganz ohnmächtigen Dank! Ach, hier denke ich eben wieder an meine „Wünsche der Wünsche“. Nein, ich dachte mir neulich den Freund K<öselitz> nicht als eigentlichen Schriftsteller, es giebt so viele Arten von dem innern Zustande und Gesund- und Reifwerden Zeugniß abzulegen. Zunächst für Sie den Künstler! Hinter Aeschylus kam ein Sophokles! Deutlicher möchte ich’s nicht sagen, was ich hoffe. — Und um einmal auch über Sie als Kopf und Herz ein aufrichtiges Wort zu sagen: welchen Vorsprung haben Sie vor mir, die Jahre abgerechnet und was die Jahre mit sich bringen! Aufrichtig nochmals, ich halte Sie für besser und für begabter als ich bin und folglich auch für verpflichteter. — In Ihrem Lebensalter trieb ich mit größtem Eifer Untersuchung über die Entstehung eines Lexikons des 11 Jhdts. post Chr. und über die Quellen des Laertius Diogenes und hatte keinen Begriff von mir, als ob ich ein Recht hätte, eigne allgemeine Gedanken zu haben und gar vorzutragen. Noch jetzt überfällt mich das Gefühl der kläglichsten Neulingschaft; mein Alleinsein, mein Kranksein hat mich etwas an die „Unverschämtheit“ meiner Schriftstellerei gewöhnt. Aber, Andere müssen alles besser machen, mein Leben sowohl als mein Denken. — Antworten Sie nicht hierauf. In wahrhaft treuer Liebe
Ihr auf Sie hoffender Freund
N.