1879, Briefe 790–922
809. An Heinrich Köselitz in Florenz
Basel den 1 März 1879
Nun, lieber guter hülfreicher Freund, bleibt Ihnen nur noch übrig, an mir selber die Correctur zu machen — in Venedig! Mein Zustand war wieder fürchterlich, hart an der Gränze des Ertragbaren. „Ob ich reisen kann?“ Die Frage war mir oft: ob ich da noch leben werde?
Vorläufiges Programm.
Dienstag den 25 März Abends 7 Uhr 45 komme ich in Venedig an und werde von Ihnen eingeschifft. Nicht wahr? Sie miethen mir eine Privatwohnung (Zimmer mit gutem warmen Bett): ruhig. Womöglich eine Altane oder ein flaches Dach bei Ihnen oder mir, wo wir zusammen sitzen und so weiter.
Ich will nichts sehen als zufällig. — Aber auf dem Markusplatz sitzen und Militärmusik hören, bei Sonnenschein. Alle Festtage höre ich die Messe in S. Marco. Die öffentl<ichen> Gärten will ich in aller Stille ablustwandeln.
Gute Feigen essen. Auch Austern. Ganz Ihnen folgen, dem Erfahrenen. Ich esse nicht im Hôtel. —
Größte Stille. Ein paar Bücher bringe ich mit. Warme Bäder bei Barbese (ich habe die Adresse). —
Sie bekommen das erste fertige Exemplar des Buches. Lesen Sie’s jetzt noch einmal im Ganzen: damit Sie sich als Verbesserer des Buches wiederfinden (und auch mich: zu guter letzt habe ich mir noch viel Mühe gegeben)
Lieber Himmel, vielleicht ist es mein letztes Produkt. — Es ist wie mir vorkommt, eine verwegene Ruhe darin.
Wüßten Sie nur, wie gut und dankbar ich immer von Ihnen denke und spreche! Und was ich alles von Ihnen erhoffe!
Jetzt seien Sie in Venedig mein guter Hirte und Arzt: aber mich quält’s zu denken, daß ich Ihnen wieder viel Mühe mache. Aber so wenig wie möglich Zeit will ich Ihnen nehmen, das verspreche ich.
Von Herzen dankbar
Ihr Freund Nietzsche
— Ich wünsche sehr, reisen zu können, aber glaube noch nicht daran. —
Wohnung für 4 Wochen (c. 30—40 frs.) Ich möchte Venedig daraufhin ansehn, ob ich dort längere Zeit leben könnte (auch sehr billig —), wenn ich doch mein Basler Amt aufgeben müßte.
Ich benutze Ihre Fußtapfen.
Ihr Freund N.